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Ohne jeden Zweifel: Thriller (German Edition)

Ohne jeden Zweifel: Thriller (German Edition)

Titel: Ohne jeden Zweifel: Thriller (German Edition)
Autoren: Tom Rob Smith
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das Richtige tat und es überhaupt etwas bringen würde. Die Flamme brannte bis zu meinen Fingerspitzen herunter. Aber ich konnte mich nicht entscheiden. Das Streichholz verbrannte meine Haut, und ich ließ es ungefährlich in den Schnee fallen.
    »Gib sie mir.«
    Mein Großvater stand neben mir und hielt die Hand ausgestreckt. Ich verstand nicht, was er wollte. Er wiederholte seine Aufforderung:
    »Gib sie mir.«
    Ich gab ihm die Schachtel. Er zündete gleich beim ersten Versuch ein Streichholz an und hielt es auf Augenhöhe:
    »Du hältst mich für ein Ungeheuer. Sieh dich um. Hier ist nichts. Was hätte ich denn sonst mit einer frigiden Frau machen sollen? Vierzehn Jahre lang war ich ein guter Vater. Und zwei Jahre lang ein schlechter.«
    Meine Mum hatte Freja als Frau beschrieben, nicht als Mädchen. An der Schwelle zum Erwachsensein, mit Brüsten und einer Ahnung von Sexualität hatte mein Großvater sie anders wahrgenommen. Sie gab ihrer Veränderung die Schuld an seiner. Als sie die angeblichen Missetaten meines Dads beschrieben hatte, hatte sie besonders betont, dass er sich verändert hatte, dass er ein anderer Mensch geworden war, ganz plötzlich, in nur einem Sommer – so wie ihr Vater im Sommer 1963.
    Mit einer knappen Handbewegung warf mein Großvater das Streichholz in die Hütte. Durch das Benzin verbreitete sich das Feuer schnell, zuerst gingen die Holzspäne in Flammen auf, dann die halb fertigen Gesichter. Die wächserne Schutzkleidung schmolz langsam, die Trollhaut brannte grün und blau. Als das Feuer weiter um sich griff, wölbte und verbog sich der Metalltank. Bald brannten die Wände und schließlich das Dach. Es war so heiß, dass wir zurückweichen mussten. Eine Rauchwolke verdeckte einen Teil der Sterne. Ich fragte:
    »Wird jemand kommen?«
    Mein Großvater schüttelte den Kopf:
    »Niemand wird kommen.«
    Als das Dach einstürzte, sagte er:
    »Ich mache schon lange keinen Honig mehr. Die Kunden mögen lieber gelben Honig. Mein weißer Honig war köstlich, in Tee oder auf Brot war er verschwendet. Die Leute haben ein Glas gekauft, weil er etwas Besonderes war, und ihn dann unangetastet in ihre Vorratskammer gestellt. Es hat mir das Herz gebrochen. Tilde hat meinen Kummer besser verstanden als jeder andere. Um ihn richtig zu würdigen, hat sie den Honig immer pur gegessen. Sie hat oft aufgezählt, welche Blumen sie herausschmecken konnte.«
    Wir blieben zusammen vor dem Feuer stehen, Großvater und Enkel, die von der Hitze gewärmt wurden. Es war die längste Zeit, die wir je miteinander verbringen würden. Am Ende erstickte der schmelzende Schnee die Flammen. Ohne ein Wort zum Abschied ging mein Großvater zurück zu seinem Haus, allein, zum Geruch von Heizofen und Fliegenpapier, und egal, was er über sein Märchenende behauptete, ich glaubte es ihm nicht.
    Als ich von dem Hof wegfuhr, stellte ich mir meine Mutter als junges Mädchen vor, wie sie so schnell sie konnte diese Straße entlangstrampelte, in ihrer Tasche ihre gesparten Münzen. Ich kam an der Bushaltestelle vorbei, an der sie gewartet hatte, kilometerweit sichtbar, neben sich nur eine Metallstange mit einem Fahrplan daran, und mit nur einer Handvoll Busse, die jeden Tag vorbeikamen. Ich stellte mir vor, wie erleichtert sie war, als sie den Fahrpreis bezahlt und sich gesetzt hatte, ganz hinten, und durch die Rückscheibe sah, ob ihr jemand folgte. Sie hatte ihre hölzerne Spieluhr bei sich, voller Krimskrams, darunter ein Zahn, Erinnerungen an diesen Ort – Erinnerungen an vierzehn glückliche Jahre und die schrecklichste Geschichte über die anderen beiden.
    Auf der gleichen Strecke wie damals ihr Bus verließ ich diese Gegend. Die Hauptstraße Richtung Süden führte an einem Schild vorbei, das die Grenze der Provinz markierte. Hinter dem Schild ragte ein Felsvorsprung etwa dreißig Meter in die Höhe. Oben standen vereinzelte Bäume, und dort am Rand der Vegetation, nahe der Kante des höchsten Felsens, entdeckte ich einen prächtigen Elch. Ich trat scharf auf die Bremse und stellte das Auto ab. Die Wände des Vorsprungs waren größtenteils steil, aber ich fand eine Stelle, an der ich hinaufklettern konnte. Auf dem Gipfel stand der Elch. Das Tier zuckte nicht einmal, als ich unbeholfen näher kam. Ich strich über seinen Rücken, seinen Hals und das Geweih. Der Elch war eine Stahlskulptur, seine Beine waren mit verrosteten Bolzen im Fels verankert, und er reckte den Kopf, um mit weitem Blick über das Land zu wachen.

    Ich
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