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Ochajon 05 - Denn die Seele ist in deiner Hand

Ochajon 05 - Denn die Seele ist in deiner Hand

Titel: Ochajon 05 - Denn die Seele ist in deiner Hand
Autoren: Batya Gur
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und was ihr Angst macht.«
    Jetzt schaute Michael auf ihre trockenen Lippen – Nesjas Mutter hatte, bevor sie hinausgegangen war, zu ihm gesagt, er solle ihre Lippen mit einem in Gaze gewickelten Zahnstocher befeuchten, doch er wartete erst einmal und fragte sich, womit er sie am besten beruhigen konnte.
    »Wir haben ihn gefasst«, berichtete er am Ende in einem Ton, in dem man zu Erwachsenen spricht – und das hatte ihr noch niemand vor ihm erzählt –, »wir haben ihn erwischt, und er kann niemandem mehr etwas tun.«
    Es schien ihm, als gewahre er eine federleichte Bewegung, eine Art verächtliches Schulterzucken.
    »Du weißt nicht einmal, mit wem du redest«, sagte Michael, »ich bin Inspektor Michael Ochajon, wir haben einmal auf der Straße miteinander gesprochen und ich weiß, dass du dich an mich erinnerst, ich bin der Polizist, der dich gebeten hat, ihm zu sagen, was du weißt, alles, was bei der Ermittlung helfen könnte, du hast allerdings nichts gesagt. Aber du hast uns trotzdem geholfen, auch ohne etwas zu sagen, nur schade, dass du dich so in Gefahr bringen und erst verletzt werden musstest.« Die oberen Zähne gruben sich in die Unterlippe, doch abgesehen davon ließ sie keinerlei Anzeichen erkennen, dass sie ihm zuhörte.
    »Ich will dir etwas sagen«, fuhr er schließlich fort, »aber zuerst sperre ich die Tür ab, denn es muss absolut unter uns bleiben, es ist ein großes Geheimnis, und ich will nicht, dass es irgendjemand außer dir und mir weiß –«, die letzten Worte äußerte er, während er aufstand, sich mit viel Lärm der Tür näherte, sie demonstrativ absperrte und sich blitzschnell umdrehte. Er erwischte sie gerade noch einen Moment, bevor sich die Augenlider wieder mit aller Kraft schlossen. Nesja atmete flach und hastig und presste ihre Lippen aufeinander. Er kehrte zurück und setzte sich aufs Bett, etwas näher an ihr Kopfende diesmal, und sprach leise und langsam.
    »Es gibt Kinder«, begann Michael, »denen fehlen Dinge, sie haben das Gefühl, niemand auf der Welt liebt sie. Und sie sind sicher, diese Kinder, dass sie hässlich und dumm und abstoßend sind, und daher schaffen sie sich eine eigene Welt. Eine geheime Welt mit schönen Dingen. Manchmal machen sie sich auch ein Versteck, ganz allein ihres, in das sie Sachen bringen. Nicht immer können sie diese Sachen leicht bekommen, aber sie haben ihre Methoden, alle möglichen«, und hier hielt er inne und fragte sie, ob sie wisse, wozu.
    Obwohl sich Nesja nicht rührte, entnahm er dem kurzen Zit tern ihres Kopfes, dass sie zuhörte und jedes Wort einsaugte. »Sie haben Methoden«, erklärte Michael und verschränkte seine Ar me, »denn sie sind im Grunde genommen überhaupt nicht dumm und vielleicht sogar klüger als die anderen Kinder. Und daher wissen sie, diese ungewöhnlichen Kinder, wie man an die schönen Dinge kommt, die sie unbedingt für die schöne, geheime Welt haben müssen, die sie erfinden. Diese Kinder haben nicht nur Fantasie, sondern sind auch einfallsreich. Und es ist klar«, erklärte Michael ruhig weiter, »dass solche Kinder besonders und ungewöhnlich sind, denn es ist bekannt, dass nicht jeder seine Fantasien leben kann.« Er blickte in ihr Gesicht und sagte: »Es gibt sehr wenige Menschen, die die Wahrheit über diese Kinder wissen, ganz ganz wenige. Aber wir haben Glück, und ich bin einer von diesen wenigen.« Und damit schwieg er. Wenn das Mädchen wirklich bei vollem Bewusstsein war, und vielleicht reichte auch ein teilweises Bewusstsein aus, dann brannte sie jetzt vor Neugier. Aber sie würde sehr vorsichtig sein, sie würde die Augen nicht öffnen, solange sie nicht sicher war, dass er alles wusste und dass sein Wissen sie nicht Schimpf und Schande aussetzen würde. Denn das ängstigte sie wohl mehr als jede gewöhnliche Strafe. Sie würde ihre Augen erst aufmachen, wenn er ihr auf indirektem Wege, mit einer Andeutung, das Versprechen gäbe, dass sie keine weitere Kränkung zu befürchten hätte. Nesja würde sich vor niemandem mehr schämen müssen, denn sie hatte sich genug für sich selbst geschämt.
    Also sagte er zu ihr, wenn er ganz zufällig auf ein solches Kind träfe, und vor allem auf ein Mädchen, das hinzuschauen und sich an alles, was sie sah und hörte, zu erinnern vermochte und noch dazu die Bedeutung der Dinge begriffe, würde er alles tun, was er könnte, damit dieser Junge, »oder dieses Mädchen«, wie er sich beeilte hinzuzufügen, mit ihm spräche und eine freundschaftliche
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