Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ochajon 05 - Denn die Seele ist in deiner Hand

Ochajon 05 - Denn die Seele ist in deiner Hand

Titel: Ochajon 05 - Denn die Seele ist in deiner Hand
Autoren: Batya Gur
Vom Netzwerk:
er die Augen schloss, sah er Adas Gesicht vor sich.
    »Es wird ein paar Minuten dauern«, sagte Eli, »sie kann dann von hier aus herausfinden, wen man verständigen muss, aber sie bittet darum, dass du zum Har Hazofim ins Krankenhaus fährst. Du hast hier jetzt nichts mehr zu tun. Nimm das Auto, ich warte hier auf sie. Es ist jetzt wichtiger, dass du dort bist.«
    Erst als er an der Wohnung vorbeifuhr, von der er die ganzen letzten Tage völlig vergessen hatte, dass er sie gekauft hatte, kam ihm der neue Ton in Eli Bachars Stimme zu Bewusstsein – ein Klang von ruhiger Kompetenz, der Bitterkeit entleert wie ein aufgestochener Abszess, der einen nicht mehr quält.
     
    Wäre er von den Ereignissen der letzten Tage nicht ziemlich mit genommen gewesen, er hätte vielleicht gelächelt beim Anblick der geschlossenen Augen des Mädchens – so fest zugedrückt, dass eine kleine steile Falte zwischen den Brauen entstanden war – und der in den Mund eingesogenen Lippen. Sie lag auf dem Rücken, ohne sich zu rühren, doch er hatte keinen Zweifel daran, dass sie alles mitbekam, was rundherum geschah; er wusste, dass sie den Protest ihrer Mutter hörte, als er sie bat, ebenfalls das Zimmer zu verlassen, und die pessimistische Bemerkung des Psychiaters – »man kann das Pferd zur Tränke führen, aber man kann es nicht zwingen zu trinken, das ist ein englisches Sprichwort, aber so un gefähr ist die Bedeutung«. Sogar die schlurfenden Füße von Peter O’Brian um ihr Bett herum nahm sie wahr, während er murmelte: »She has really gone through hell.« Nun, als er allein im Zimmer zurückgeblieben war, setzte er sich auf die Bettkante, nahe an Nesjas Füßen, verschränkte die Arme und schwieg.
    Wenn man ihn gefragt hätte, worauf er wartete, hätte er mit den Achseln gezuckt und gesagt: »Auf eine Eingebung.« In Wahr heit allerdings hoffte er, dass das kleine Mädchen seine Neugier nicht bezähmen könnte und wissen wollte, wer auf ihrem Bett saß. Der große Zeiger der Wanduhr bewegte sich vorwärts, drehte eine volle Runde und danach noch eine, aber sie schlug die Augen nicht auf, sondern presste ihre Lippen nur noch fester zusammen und biss sich kurz sogar auf ihre Unterlippe, als verkündete sie: »Kommt nicht in Frage.« Michael musterte das blasse, sommer sprossige Gesicht, das seine feiste Fülle verloren hatte und nun so verletzlich wirkte, studierte auch das braune, krause, ihr Gesicht wie einen Hof umgebende Haar. Jetzt, wo es nicht von einem Gummi zusammengehalten wurde, sah das Gesicht mit einem Mal schmal und zart aus; Fäden von Gold schimmerten in diesen Locken, und auch ihre Hand betrachtete er, die neben dem leblosen Körper lag, als ob sie irgendeine Kruste abgeworfen und sich erneuert hätte. Und er sagte sich stumm, dass diese Krise, wegen der sie jetzt auf dem Rücken lag und sich von der Welt ab schottete, ihren Lohn hatte, denn sie verlieh ihrem Gesicht, viel leicht auch ihrem Körper, eine bisher nie dagewesene verletzliche Zartheit. Er begutachtete das große Buch, das auf dem Bett neben ihr lag – Peter hatte es dort abgelegt, bevor er hinausgegangen war –, schlug den Band auf und las die verschnörkelten goldenen Lettern: Shakespeare für Kinder, auf Englisch. (Abend für Abend, bevor das Licht gelöscht wurde, las Peter Nesja daraus vor, um sie ins Bewusstsein zurückzuholen, damit oder mit den Liedern, die er ihr ins Ohr summte, und mehr noch durch die liebevolle Beharrlichkeit in seiner Stimme – und möglicherweise wirkte es tatsächlich.) Wäre Nesja noch kleiner gewesen, hätte Michael ihr die Geschichte vom hässlichen Entlein erzählt, aber nachdem sie gesehen hatte, was sie gesehen hatte, und so geschlagen worden war, bedurfte sie keiner Märchen, und ganz sicher nicht solcher, in denen Moral und Verstand vorkamen.
    »Warum will sie die Augen nicht aufmachen?«, hatte er den Psychiater gefragt, bevor er das Zimmer betreten hatte. »Ich habe nicht genügend Daten«, hatte der erwidert, »die Mutter kann keine genauen Gründe dafür nennen. Aber das ist eine mögliche Reaktion auf das Trauma, das sie durchgemacht hat, die Menschen fürchten sich davor, wieder bei Bewusstsein zu sein.«
    »Aber sie ist bei Bewusstsein, zumindest teilweise«, argumentierte Michael, »sogar ein Laie wie ich kann das feststellen, also fürchtet sie sich davor nicht.«
    »Richtig«, stimmte ihm der Psychiater ohne Begeisterung zu, »aber wir haben keine Möglichkeit herauszufinden, woran sie sich erinnert
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher