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Oben ohne

Oben ohne

Titel: Oben ohne
Autoren: Evelyn Heeg
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musste, dem Krieg, ihrer ersten Liebe, einem Buchhändler, den sie auch geheiratet hat, aber der kurz darauf im Krieg gefallen ist. Dessen Bruder, ihr Schwager, verlor wiederum seine Frau. Und so taten sie sich danach zusammen und heirateten. Das klingt für uns wie eine Zweckehe, aber Oma sieht das alles mit der Weisheit und Abgeklärtheit, die sechzig Jahre Distanz ermöglichen. »Wisst ihr, als Buchhändler hätte er sicher eine schwere Zeit gehabt nach dem Krieg. Vielleicht war es sogar besser so.« Opa war Fernmeldetechniker, das war in der Aufbauzeit gefragt.
    Es sprudelt nur so aus ihr hervor, sie erinnert alles ganz genau, sie kennt noch den Namen des Kinderarztes, zu dem sie mit der ersten Tochter gegangen ist. Unglaubliche Einzelheiten, dann wieder schreckliche und bedrückende Erlebnisse. Es ist faszinierend und überwältigend, doch ich kann mir das alles natürlich nicht merken. Das ist unmöglich. Unglaublich schade, dass wir es nicht aufnehmen können. Als Oma vom frühen Tod ihrer älteren Schwester erzählt, fragt Tino nach: »Woran ist sie denn gestorben?«
    »Brustkrebs«, sagt Oma ungerührt.
    Tino schaut mich bedeutungsvoll an, aber ich zucke nur mit den Achseln. Natürlich erzählt sie uns auch vom Tod ihrer drei Töchter, doch diesen Teil kenne ich sozusagen schon aus eigener Anschauung. Zuerst erwischte es die älteste Tochter. Danach kam meine Mutter an die Reihe. Und schließlich erkrankte dann noch die Zweitjüngste. Bei meiner Mutter war es erst der Brustkrebs, doch er hatte gestreut, ein Tumor wurde aus der Wirbelsäule entfernt, und sie starb schließlich an Lungenkrebs. Auch bei der zweitjüngsten Tochter begann es mit Brustkrebs. Nur die älteste Tochter hatte ein anderes Karzinom, wahrscheinlich Hodgkin, aber da ist sich Oma jetzt nicht mehr sicher. Es ist in jedem Fall eine Spur der Vernichtung, die der Krebs in unserer Familie hinterlassen hat. Vier Frauen in zwei Generationen, und Oma würde schließlich auch daran sterben, das war so sicher wie das Amen in der Kirche.
    Später holt sie einige Fotoalben, die ihr zweiter Mann, unser Opa, in seiner Freizeit zusammengestellt hat. Liebevoll und detailversessen hat er alle Bilder und Dokumente, derer er habhaft werden konnte, gesammelt, eingeklebt und mit gestochener Handschrift kommentiert. Sogar einen Feldpostbrief aus dem Ersten Weltkrieg hat er aufgetrieben. Da merkt man, dass er ein alter Briefmarkensammler war.
    Eine Aufnahme zeigt einen Vorfahren, meinen Uropa, vor einer Buchhandlung, die er in Süditalien betrieben hat. Ich wusste gar nicht, dass es so viele Buchhändler in unserer Familie gibt! Auch Oma las schon immer gerne und viel. Der rustikale Wandschrank an der Wohnzimmerwand ist vollgestopft mit Büchern, klassische Werke stehen hier, die Schmachtfetzen stehen im Schreibzimmer.
    Inzwischen springt Oma hin und her zwischen den Generationen und Lebensabschnitten, bis uns allen der Kopf brummt. Wir sind kaputt und erschöpft, und schließlich ist es auch gut. Es gibt noch Abendessen, doch wir reden inzwischen wieder von den tagtäglichen Dingen. Was meine Schwester so treibt, wie es um den Job meines Bruders bestellt ist. Wie es Tino bei seiner Arbeit geht, wie ich in der Schule klarkomme. Oma wirkt noch immer erschöpft. Die Falten in ihrem Gesicht sind tief, dunkle Ringe zeichnen sich um ihre Augen ab. Ich berühre Tino am Arm, und er nickt zurück. Nach dem Essen wollen wir aufbrechen und zurückfahren. Ich frage Oma nach ihrer Gesundheit, und sie seufzt. Ihr linker Arm ist dauerhaft angeschwollen und schmerzt. Das hat natürlich irgendwie mit dem Krebs zu tun, doch über medizinische Details weiß sie nicht Bescheid.
    »Der Arzt sagt, dass ich eine Chemo machen soll, aber ich will das nicht.«
    Sie hat erlebt, wie ihre drei Töchter diese Tortur über sich ergehen ließen – und trotzdem unter großen Qualen starben.
    »Das verstehe ich«, murmele ich.
    Es ist einfach hoffnungslos, und wir beide wissen es.
    Nachdem wir die steile Treppe im Gänsemarsch hinuntergestiegen sind, muss ich mit Oma in den Vorratskeller. Das ist ein fester Programmpunkt: Im Vorratskeller liegen Omas Schätze. Selbstgekochte Marmelade und eine riesige Tiefkühltruhe. Daraus werde ich dann immer eingedeckt. Die Himbeer-Johannisbeer-Marmelade ist mein persönlicher Favorit. Früher in der Studenten-WG waren Omas Marmeladen auch immer heiß begehrt. Seit ich mit Tino zusammenwohne, hat sich die Situation verändert: Er frühstückt grundsätzlich
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