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Nur ein Jahr, Jessica!

Nur ein Jahr, Jessica!

Titel: Nur ein Jahr, Jessica!
Autoren: Berte Bratt
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Geschäfte.
    Wer jetzt eine Garnrolle oder ein Paar Strümpfe brauchte, ging in das neue Manufakturgeschäft. Und wer eine Tasse kaputtgemacht hatte, kaufte eine neue im Haushaltsgeschäft.
    Unser Laden wurde nun ein reines Lebensmittelgeschäft. Vati mußte neue Artikel aufnehmen, denn die Stadtnähe machte die Leute anspruchsvoller.
    Mutti stand ihm tapfer zur Seite. Sie half ihm, das ganze Einkaufsprogramm aufzustellen, sie führte die Bücher, und vor allem, sie bediente im Laden. Sie kannte die Leute, sie wußte, wer gerade eine Blinddarmoperation gehabt hatte, wer ein Kind erwartete, wer neue Schlafzimmermöbel bestellt hatte und wer zum Zahnarzt mußte. Besonders die älteren Leute kamen gern zu uns, sie mochten den persönlichen Kontakt lieber.
    Aber die älteren Leute verschwinden allmählich. Entweder kommen sie ins Altersheim, oder man liest eines Tages in der Zeitung: „Nach einem schaffensreichen Leben schlief unsere liebe Mutter, Schwiegermutter, Oma, Uroma ein…“, und darunter: „In stiller Trauer…“ Und in einer Woche verläuft das Leben wieder normal, nur mit einem alten Menschen weniger, das ist alles.
    Die jüngeren Leute fahren gern in die Stadt und kaufen in den großen Kaufhäusern ein.
    Ja, ich kannte die Probleme meiner Eltern, und ich hatte oft ein ganz schlechtes Gewissen, weil ich nur studierte und Geld verbrauchte, anstatt welches zu verdienen.
    Aber meine Eltern wünschten es ja! Sie wollten, daß ich mein Studium beende und Ärztin werde.
    Dann tröstete mich der Gedanke, daß meine Eltern ihr eigenes Haus hatten, sogar ein urgemütliches, und daß Opa ihnen außer dem Geschäft auch etwas Geld hinterlassen hatte. Außerdem war Mutti auch nicht ganz unvermögend.
    Es würde schon gehen! Bei der Tüchtigkeit und Beliebtheit meiner Eltern! Sie würden bestimmt nicht ihre Kunden verlieren!
    Wann würde das Telegramm wohl ankommen? In zwei Stunden vielleicht? Oh, wie sie sich freuen werden!
    Die Vorlesung war zu Ende. Eine Schar Studenten aus dem achten Semester – herrlich, soweit zu sein! – kam die Treppe herunter.
    Dann sah ich Falko!
    Ich rannte ihm entgegen, und er legte den Arm liebevoll und kameradschaftlich um meine Schultern.
    „Na, mein Mädchen, wie ist es…“ Dann unterbrach er sich selbst und lachte. „Gratuliere, Liebling! Fein gemacht! Gratuliere zu der Eins!“
    „Wer hat dir erzählt…?“
    „Dein eigenes Gesicht! Es strahlt lauter Einser aus – aus den Augen und aus den Mundwinkeln. Es steht sozusagen eine große Eins auf deiner Stirn!“
    Er küßte mich ungeniert, und dann wanderten wir los, eng umschlungen, um zu feiern.
    Feiern bedeutete, daß wir die Mensa sausen ließen und uns in Falkos Bude selbst ein Mittagessen zusammenbrutzelten. Unterwegs kaufte Falko eine Flasche Rotwein. Mehr konnten wir uns nicht leisten, denn Falkos Monatswechsel war auch nicht sehr hoch.
    „Was machst du nun in den Semesterferien?“ fragte Falko, als wir den größten Hunger gestillt hatten.
    „Wenn ich das bloß wüßte. Ich habe noch nicht soweit gedacht.“
    In den letzten Wochen stand nur das Wort „Physikum“ in meinem geplagten Kopf, weiter habe ich wirklich nicht gedacht.
    Falko teilte den Rest des Nachtisches – Bananenquark, von mir persönlich zubereitet – genau und gerecht, und seine Stirnfalten verrieten, daß er scharf nachdachte. „Wie wäre es, wenn du nach Hause führest und dir endlich mal eine Ruhepause gönnen würdest?“
    „Ich überlege es mir“, gestand ich. „Ein bißchen Ruhe würde mir tatsächlich guttun.“
    Falko sah mich mit dem Blick des zukünftigen Arztes an. „Du siehst scheußlich aus“, verkündete er dann.
    „Was?“
    Diese Äußerung stimmte durchaus nicht mit dem überein, was er sonst mir zu sagen pflegte. Er hatte immer allerlei Adjektive gebraucht, um mein Ansehen zu beschreiben, aber „scheußlich“ hörte ich zum erstenmal.
    „Du weißt genau, was ich meine. Du hast zwar dasselbe liebe Stupsnäschen“, dieses wurde geküßt, „dieselben lieben Augen“, die waren an der Reihe, „dieselbe kluge Stirn“, Stirnkuß, „und denselben – nein, mit dem Mund warten wir, bis ich ausgesprochen habe. Scheußlich bezieht sich auf deine Magerheit und die Ringe unter deinen Augen. Du brauchst Urlaub, Jessilein!“
    „Urlaub oder eine radikale Veränderung“, meinte ich. „Ich könnte schon einen Ferienjob gebrauchen, aber einen, wo ich nichts mit Papier, Buchstaben, Büchern und so etwas zu tun hätte. Ich brauche
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