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Nur Der Tod Bringt Vergebung

Nur Der Tod Bringt Vergebung

Titel: Nur Der Tod Bringt Vergebung
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durchschnittlichem Wuchs war, wirkte ihre Haltung gebieterisch. Die Wut ließ ihre knochigen Züge noch stärker hervortreten.
    Es klopfte laut, und noch ehe die Äbtissin Zeit hatte zu antworten, schwang die Eichentür auf.
    Eine Frau im schlichten braunen Wollgewand der Ordensschwestern stand verlegen auf der Schwelle.
    Hinter ihr wand sich ein Bettler im festen Griff zweier kräftiger Ordensbrüder. Die Gebärden und das hochrote Gesicht der Schwester verrieten höchste Bedrängnis, und sie schien vergebens nach den passenden Worten zu suchen.
    «Was hat das zu bedeuten?»
    Die Äbtissin sprach leise, doch ihre Stimme klang hart wie Stahl.
    «Mutter Oberin», begann die Schwester ängstlich, aber ehe sie noch Zeit hatte, ihren Satz zu beenden, stieß der Bettler einen Schwall unverständlicher Laute aus.
    «Sprich!» befahl die Äbtissin ungeduldig. «Was ist der Grund für diese ungeheuerliche Ruhestörung?»
    «Mutter Oberin, dieser Bettler verlangt, Euch zu sehen. Wir haben versucht, ihn abzuweisen, aber er hat herumgeschrien und die Brüder tätlich angegriffen», stieß sie atemlos hervor.
    Die Äbtissin preßte grimmig die Lippen zusammen.
    «Bringt ihn her», befahl sie.
    Die Schwester wandte sich um und bedeutete den Ordensbrüdern, mit dem Bettler hereinzukommen. Der Mann hatte inzwischen seine Gegenwehr aufgegeben.
    Er war so hager, daß er eher einem Skelett als einem Menschen aus Fleisch und Blut glich. Seine Augen waren grau, fast farblos, und auf seinem Kopf sproß eine wilde, schmutzig-braune Mähne. Die straff über seine ausgezehrten Formen gespannte Haut sah aus wie gelbliches Pergament. Seine Kleidung bestand aus zerrissenen Lumpen, und es war auf den ersten Blick zu erkennen, daß er im Königreich Northumbrien ein Fremder war.
    «Was willst du?» wollte die Äbtissin wissen und musterte ihn widerwillig. «Und wie kommst du dazu, in einem Haus der stillen Einkehr ein solches Spektakel zu machen?»
    «Was ich will?» wiederholte der Bettler schwerfällig. Dann wechselte er in eine andere Sprache und stieß eine rasche Folge kehliger Laute aus. Die Äbtissin neigte den Kopf vor, während sie angestrengt versuchte, ihm zu folgen.
    «Sprecht Ihr meine Sprache, die Sprache der Kinder von Éireann?»
    Sie nickte, während sie in Gedanken seine Worte übersetzte. Erst vor dreißig Jahren war dem Königreich Northumbrien das Christentum gebracht worden. Lesen und Schreiben hatten die Geistlichen von den irischen Mönchen der heiligen Insel Iona gelernt.
    «Ich spreche deine Sprache recht gut», räumte sie ein.
    Der Bettler hielt inne und nickte einige Male mit dem Kopf, als wolle er damit seine Zustimmung zu erkennen geben.
    «Seid Ihr Äbtissin Hilda von Streoneshalh?»
    Die Äbtissin nickte ungeduldig.
    «Allerdings.»
    «Dann hört mich an, Hilda von Streoneshalh! Unheil liegt in der Luft. Ehe diese Woche vorüber ist, wird in Streoneshalh Blut geflossen sein.»
    Äbtissin Hilda starrte den Bettler überrascht an. Sie brauchte eine Weile, um sich vom Schrecken dieser Botschaft zu erholen, die ihr in tonlosem, nüchternem Tonfall überbracht worden war. Inzwischen hatte sich der Fremde völlig beruhigt. Er stand da und sah sie mit Augen an, die sie an das undurchsichtige Grau eines drückenden Winterhimmels erinnerten.
    «Wer bist du?» fragte sie, als sie ihre Beherrschung wiedergefunden hatte. «Und wie kannst du es wagen, in einem Hause Gottes solche Prophezeiungen zu verkünden?»
    Die dünnen Lippen des Bettlers verzogen sich zu einem Lächeln.
    «Ich bin Canna, der Sohn Cannas, und ich habe das alles am nächtlichen Himmel gelesen. Schon bald werden in diese Abtei viele Große und Gelehrte kommen, von Irland im Westen, Dál Riada im Norden, Canterbury im Süden und Rom im Osten. Sie alle werden hier zusammentreffen und über die Vorzüge ihres Weges zum Verständnis des einzigen und wahren Gottes streiten.»
    Äbtissin Hilda machte eine ungeduldige Geste.
    «Soviel weiß in dieser Gegend selbst der unkundigste Bauerntölpel, du großer Wahrsager», erklärte sie verärgert. «Jeder weiß, daß König Oswiu die führenden Gelehrten der Kirche zusammengerufen hat, damit sie darüber debattieren, ob in seinem Königreich die Lehren Roms oder die Lehren Columbans von Iona befolgt werden sollen. Warum belästigst du uns mit diesem Küchengeschwätz?»
    Der Bettler grinste verschlagen. «Was sie nicht wissen, ist, daß Tod in der Luft liegt. Denkt an meine Worte, Äbtissin Hilda. Ehe die Woche
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