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Nr. 799 (German Edition)

Nr. 799 (German Edition)

Titel: Nr. 799 (German Edition)
Autoren: Yuna Stern
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der Fontäne über unsere Köpfe, wie stürmischer Regen.
    »Ach du –«
    »Können – Sie – den – Aufzug – sehen?«, rief Fiona Z. und zeigte mit dem Kopf auf ein schwarzes Loch am anderen Ende der Plane.
    »Das ist doch kein Aufzug«, entgegnete ich entgeistert.
    »Sie – müssen – sich – nur – fallen – lassen«, zwinkerte die Märchenprinzessin mit ihren unechten Wimpern.
    »Fallen lassen?!«
    Sie nickte. Wieder sah sie mich an, als würde sie mit einem Kind sprechen, das gerade zum ersten Mal alleine aufs Klo wollte. »Fallen – lassen«, sagte sie mit hochgezogenen Augenbrauen und ernster Piepsstimme. Endlich ließ sie meine Hand frei, damit ich losgehen konnte.
    Während ich zu dem schwarzen Loch lief, warf ich immer wieder Blicke zurück. Fiona Z. drückte mir – mit großer Theatralik im Blick – die Daumen. Sie flüsterte: »Sie – schaffen – das.«
    Sobald ich vor dem – vermeintlichen – Aufzug stand, begutachtete ich das Loch erst einmal. Ein beißender Geruch – Desinfektionsmittel? – stieg mir in die Nase.
    »Fallen – lassen!«, trällerte Fiona Z. von hinten.
    Wenn ich wirklich schon tot war, würde mich wohl nichts mehr umbringen können, richtig? Dann konnte ich es auch ausprobieren. Insbesondere, wenn mich dieser Aufzug von der Kinderfee fortschaffen konnte. Ich schluckte. Holte tief Luft. Schloss meine Augen.
    Ich ignorierte das aufgeregte Kichern hinter meinem Rücken. Und trat einen Schritt vor.
    »Das klappt einfach jedes Mal», prustete die Märchenprinzessin von der anderen Seite der Plane. Was verdammt noch mal meinte sie damit?! Ich zwang mich dazu, mich nicht zu ihr umzudrehen. Es spielte keine Rolle.
    Und noch ein Schritt. Und noch ei- schon fiel ich.
    Ich riss meine Augen auf und schrie. Ich sah nichts mehr, außer Schwärze. Meine Beine suchten nach Halt, traten auf der Stelle – in der Luft. Meine Arme ruderten. Mein ganzer Körper wurde durchgeschüttelt. Von einem stechend kalten Wind. Und irgendwann landete ich – überraschenderweise sehr sanft – in einem Aufzug.
    »Begrüßung, Nummer Siebenhundertneunundneunzig. Hoffentlich gute Landung. Etage, Abteilung, Nummer Sechshundertzweiundzwanzig. In zwölf Minizeigern. Zwölf. Elf. Ze–«
    Während die mechanische Aufzugstimme weiter zählte, setzte ich mich auf. Die Wände des Lifts bestanden aus Spiegeln. Ich war in einem Spiegelkabinett gelandet.
    Zum ersten Mal – so hatte ich das Gefühl – blickte ich mir selbst in die Augen. Nummer Siebenhundertneunundneunzig, kurz genannt Hanna M., erhielt ein Gesicht.

KAPITEL 3

Ein kreidebleiches Gesicht. Schwarze Augen, in die ich hineinfiel wie in das Spiegelkabinett. Und spröde Lippen, die zitterten.
    Ich war so knochig. Rippen zeichneten sich unter meinem Kittel ab.
    Stumm rutschte ich über den Metallboden des Aufzugs nach vorne, berührte mit meinen Fingern das Spiegelbild. Irgendwie hatte ich mich ganz anders gefühlt, als ich aufgewacht war. So stark. Und robust. Doch mit diesen Streichholzärmchen würde ich sogar Schwierigkeiten dabei bekommen, einen Stuhl hochzuheben. Seltsam. Dieses Mädchen war also Hanna M.
    Glatte, hellblonde Haare fielen mir wie ein Schleier vors Gesicht, verbargen einen wehmütigen Blick. Ich sehnte mich nach Erinnerungen. Nach Identität. Irgendetwas.
    Mit diesem Mädchen – nein, mit dieser Hülle – verband mich gar nichts. Trotzdem hämmerte mein Herz gegen die kaum vorhandene Brust, während ich mich weiterhin betrachtete, einschätzte.
    »Zwei. Eins. Null«, verkündete die Aufzugstimme nüchtern. Die Türen des Lifts glitten schweigsam auf, als würden sie mich bei meiner Entdeckung nicht stören wollen. »Angekommen. Etage, Abteilung, Nummer Sechshundertzweiundzwanzig.«
    Nur mit Mühe rappelte ich mich hoch. Ich konnte meinen Blick schwer von meiner eigenen Erscheinung lösen. Der blassblaue Kittel ließ mich – Hanna M. – zierlich wirken. So klein. Unscheinbar.
    Meine Füße klebten auf dem Boden. Ich konnte mich nicht rühren. Mein Atem ging schwer. Ich keuchte.
    Irgendwann glaubte ich ein Räuspern zu hören. War das die Aufzugstimme? Das konnte nicht sein.
    »Ich geh schon«, sagte ich dennoch. Oder wollte ich es nur sagen? Kam überhaupt ein Laut über meine Lippen?
    Wie im Halbschlaf stolperte ich aus dem Aufzug, noch immer das Bild dieses Mädchens im Kopf, als hätte ich es hinter meine Augenlider tätowiert. Ein Geist. Tatsächlich – Fräulein Ingrid W. sagte die Wahrheit. Ich war der Geist einer
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