Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Novemberrot

Novemberrot

Titel: Novemberrot
Autoren: Markus Theisen
Vom Netzwerk:
sie war zumindest über den Umstand heilfroh, dass es entgegen aller Wettervorhersagen heute noch nicht geregnet hatte. Denn der Straßenbelag war seit gestern Nacht recht ordentlich abgetrocknet. Und während er, wie von allen guten Geistern verlassen, in die Dämmerung zum Kreismüller-Hof preschte, las ihm Steffi, leicht stockend aufgrund seiner rüden Fahrweise, Rosis Brief laut vor. Dabei musste selbst sie, wo sie doch normalerweise so taff war und Rosi zudem auch nicht näher kannte, einige Male vor Ergriffenheit kräftig schlucken:
     
    Lieber Fritz, wenn Du diese Zeilen liest, kannst Du mich nicht mehr retten …
    … so wie Du es damals getan hast!
    Damals, als sich unsere Wege auf schicksalhafte Weise das erste Mal kreuzten. Meine Gedanken kreisten nur noch um Dich. Als Du das Wochenende in Mayberg verbrachtest, war ich bereits Freitagnacht vor Deiner Zimmertür, doch ich traute mich einfach nicht anzuklopfen und lief schnell wieder davon. Aber tags darauf, nachdem wir getanzt hatten, nahm ich schließlich meinen ganzen Mut zusammen und ich kann bloß sagen: »Besser nur einmal zu lieben, als das ganze Leben alleine zu verbringen! « Die wenigen Tage mit Dir waren die glücklichsten meines jämmerlichen, verkorksten Lebens. Du fragtest mich, ob Sandra UNSERE Tochter ist … ich weiß es nicht. Aber ich habe mir immer von ganzem Herzen gewünscht, dass es so wäre! Denn als ich Dir damals sagte, dass Heinrich Kreismüller ein Schwein sei, hatte ich meine Gründe dafür. Wenige Tage bevor er für seine Schandtaten bezahlen musste, kam er spät abends in mein Zimmer geschlichen. Es war zwar nur dieses eine Mal, aber selbst heute noch rieche ich seinen vor Schnaps stinkenden Atem und spüre noch wie damals seine rauen, ekelhaften Hände auf meiner Haut. Ich wache noch immer nachts schweißgebadet auf und sehe seine verschwitzte Fratze japsend über mir. Ich schämte mich so sehr, dass ich keinem Menschen davon erzählte, nicht einmal meiner Mutter. Sie litt ohnehin schon genug unter seinen ständigen, spöttischen Attacken. Heinrich Kreismüller drangsalierte sie, wo immer sich auch nur die kleinste Gelegenheit dazu bot. Er machte sich einen regelrechten Spaß daraus, sie vor allen vorzuführen. Und meine Mutter ertrug offensichtlich alles regungslos. Doch wenn sie sich unbeobachtet wähnte, hörte ich sie weinen.
    Als dann der alte Elzer wenige Tage später im Sterben lag, bat er meine Mutter zu sich. All die Jahre hatte er es für sich behalten, dass Michael Bergheim, mein leiblicher Vater, von Kreismüller verraten wurde. Wie Heinrich geflucht hatte, als Michael nach dem Krieg wider Erwarten doch heimgekehrt war .
    » Niemals werde ich sie gehen lassen, niemals« , soll er geschrien haben. Er sagte Michael, dass seine Familie Zeit benötige, um sein plötzliches Auftauchen zu verarbeiten und er sich für ihn bei den beiden einsetzen würde. Michael gab ihm darauf die Briefe, die er im Krieg an meine Mutter geschrieben hatte und eine Tafel Schokolade für mich. Heinrich prahlte anschließend damit, dass er die Schokolade sofort vertilgt habe, als Bergheim gegangen war und das Zeug wirklich gut geschmeckt hätte. Dann versteckte er das Schokoladenpapier und die Briefe irgendwo auf dem Speicher. Heinrich hatte sie alle von Anfang an belogen und meiner Mutter seine Gefühle für sie vorgeheuchelt. Und sie fiel auf ihn herein und servierte Bergheim eiskalt ab. Elzer hatte es auch mit eigenen Augen gesehen, wie Bergheim den Kreismüller daraufhin in den Matsch geworfen und den Hammer knapp neben dessen Kopf geschleudert hatte. Er war Michael anschließend zu dessen Haus in die Lenzgasse gefolgt und stellte ihn zur Rede. Was er denn nun vorhabe, hatte er ihn gefragt. Michael muss wohl nur geantwortet haben, dass ihn hier nun nichts mehr halten würde und er sich keine Sorgen machen sollte. So hinterließ er Elzer die Wehrmachtskleidung und seinen Pflasterer-Hammer. Elzer erinnerte sich noch genau an Bergheims seltsame letzte Worte, als er ihm die Stücke in die Hand drückte: »Bewahre die Sachen gut auf, wer weiß, manchmal geschieht halt Sagenhaftes. « Dann verschwand er für immer im Dunkel der Nacht. Als Elzer in sein Haus zurückkam, fand er einen Brief, jemand hatte ihn unter der Haustür hindurch in den Flur geschoben. Es war jener Brief meines Vaters, den ich Dir gestern mitgebracht habe. All die Jahre lebte Elzer mit dieser Bürde. Er redete sich ständig ein, dass es uns bei Kreismüller gut erginge …
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher