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Novecento - Die Legende vom Ozeanpianisten

Novecento - Die Legende vom Ozeanpianisten

Titel: Novecento - Die Legende vom Ozeanpianisten
Autoren: Alessandro Baricco
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einem Februartag im Hafen von New York von Bord der Virginian gehen. Nach zweiunddreißig Lebensjahren auf dem Meer würde er an Land gehen, um das Meer zu sehen. 
     
    (Musik in der Art einer alten Ballade. Der Schauspieler verschwindet im Dunkeln und taucht als Novecento am obersten Ende des Landungsstegs eines Dampfers wieder auf. Kamelhaarmantel, Hut, ein großer Koffer. Er steht eine Weile reglos im Wind und schaut nach vorn. Er betrachtet New York. Dann geht er die erste Stufe, die zweite, die dritte hinunter. Da bricht die Musik plötzlich ab, und Novecento bleibt wie angewurzelt stehen. Der Schauspieler nimmt den Hut ab und dreht sich zum Publikum.) 
     
    Auf der dritten Stufe blieb er stehen. Ganz plötzlich.
    »Was ist los, ist er in Scheiße getreten?« fragte Neil O’Connor, ein Ire, der immer nur Bahnhof verstand, was ihm aber nie die Stimmung verdarb, niemals.
    »Er wird was vergessen haben«, sagte ich.
    »Was denn?«
    »Woher soll ich das wissen …«
    »Vielleicht hat er vergessen, warum er gerade von Bord geht.«
    »Red keinen Quatsch!«
    Und er stand die ganze Zeit da, reglos, mit einem Fuß auf der zweiten Stufe und einem auf der dritten. Er blieb eine halbe Ewigkeit so. Er schaute nach vorn, und es sah aus, als suche er was. Schließlich machte er was Sonderbares. Er nahm seinen Hut ab, hielt die Hand über das Geländer des Stegs und ließ ihn fallen. Er sah aus wie ein müder Vogel oder wie ein blaues Omelett mit Flügeln. Er kreiselte ein bißchen durch die Luft und fiel ins Meer. Er schaukelte auf dem Wasser. Offensichtlich war er ein Vogel, kein Omelett. Als wir wieder zum Landungssteg hochschauten, sahen wir, wie Novecento in seinem Kamelhaarmantel, in meinem Kamelhaarmantel mit dem Rücken zur Welt und einem seltsamen Lächeln auf dem Gesicht die zwei Stufen wieder hochstieg. Ein paar Schritte, und er verschwand im Schiff.
    »Hast du gesehn, der neue Klavierspieler ist da«, sagte Neil O’Connor.
    »Es heißt, er ist der Größte«, sagte ich. Und ich wußte nicht, ob ich traurig oder irrsinnig glücklich war. 
     
    Was er da gesehen hatte, von dieser verfluchten dritten Stufe aus, wollte er mir nicht sagen. An diesem Tag und die beiden Fahrten über, die wir danach machten, war Novecento ein bißchen sonderbar, er sprach weniger als sonst und schien sehr mit irgendeiner persönlichen Angelegenheit beschäftigt zu sein. Wir stellten keine Fragen. Er tat so, als ob nichts wäre. Es war zu sehen, daß er keineswegs ganz normal war, aber trotzdem behagte es uns nicht, ihn irgendwas zu fragen. Das ging ein paar Monate so. Dann, eines Tages, kam Novecento in meine Kajüte und sagte langsam, aber hintereinanderweg, ohne abzusetzen: »Danke für den Mantel, er stand mir prächtig, es war ein Jammer, ich hätte eine tolle Figur abgegeben, aber jetzt geht alles viel besser, es ist vorbei, du mußt nicht denken, daß ich unglücklich bin: Ich werde es niemals mehr sein.«
    Was mich anging, war ich mir nicht mal sicher, daß er das überhaupt je gewesen war: unglücklich. Er war keiner von den Leuten, bei denen du dich fragst, wer weiß, ob der wohl glücklich ist. Er war Novecento und damit basta. Man kam gar nicht auf die Idee, daß er was mit Glücklichsein oder Kummer zu tun haben könnte. Er schien über den Dingen zu stehen, er wirkte unantastbar. Er und seine Musik – der Rest spielte keine Rolle.
    »Du mußt nicht denken, daß ich unglücklich bin: Ich werde es niemals mehr sein.« Dieser Satz haute mich um. Als er ihn sagte, sah er aus wie einer, der es ernst meint. Wie einer, der genau weiß, wohin er geht. Und daß er dort ankommen würde. Es war, wie wenn er sich ans Klavier setzte und losspielte, da war keinerlei Zweifel in seinen Händen, und die Tasten schienen seit jeher auf diese Töne gewartet zu haben, sie schienen für sie, und nur für sie, hier gelandet zu sein. Er schien aus dem Stegreif zu spielen, doch irgendwo in seinem Kopf standen diese Töne schon seit jeher geschrieben.
    Heute weiß ich, daß Novecento an jenem Tag beschlossen hatte, sich an die weißen und schwarzen Tasten seines Lebens zu setzen und eine verrückte und geniale Musik anzustimmen, kompliziert, aber schön, die größte überhaupt. Und daß er nach dieser Musik alles tanzen würde, was von seinen Jahren noch blieb. Und daß er niemals mehr unglücklich sein würde. Ich verließ die Virginian am 21. August 1933. Sechs Jahre vorher war ich an Bord gekommen. Aber mir war, als sei ein ganzes Leben
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