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Notizen einer Verlorenen

Notizen einer Verlorenen

Titel: Notizen einer Verlorenen
Autoren: Heike Vullriede
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gerade mal ansatzweise gelächelt hatte. Dann schenkte er Tee ein, ohne meine Antwort abzuwarten.
    Sie sahen mich stumm an. Alexander auf dem Sofa wippte mit den Knien. Was wollten sie denn hören? Unsicher nahm ich den Tee, vibrierend vor Spannung. Ich nippte an dem heißen Getränk, um die Pausen auszudehnen, die ich brauchte, um über Jens und seinen Sturz auf die Autobahn zu berichten. Ungern beschrieb ich es so detailliert, wie sie es von mir verlangten.
    »Was glauben Sie, woran dachte er in diesem letzten Moment? Wie hat er Sie angesehen, bevor er sprang?«
    »Wie er mich angesehen hat?« Vor meinen Augen sah ich Jens' entstelltes Gesicht mit dem verschobenen Kinn im Keller des Krankenhauses. Dieses Gesicht, das sich in meinen Kopf gepflanzt hatte und den vorherigen Jens meiner Beziehung und auf dem Brückengeländer fast schon beiseiteschob. Ich glaubte kaum an eine ernste Absicht hinter ihrer Frage.
    »Ich soll den Gesichtsausdruck eines Selbstmörders kurz vor seiner Tat beschreiben? Die Augen eines Freundes, der Sekunden später mit einem fast geplatzten Kopf auf dem Asphalt einer Straße liegt? Ist das Ihr Ernst?«
    Buchheim, noch immer vor dem Tisch stehend und noch immer mit dem Brieföffner hantierend, legte etwas unglaubwürdig Beschwichtigendes in seine Stimme.
    »Es muss Ihnen merkwürdig vorkommen, dass wir so viel vom Tod Ihres – ich darf doch sagen Freundes – hören wollen.«
    Er wartete kurz, ob ich antwortete, doch ich fand keine Worte mehr. Das Zögern, mit welchem er das Wort Freundes bedachte, als übertreibe er damit bereits, machte aus mir eine Randfigur in Jens' Leben, schob mich ganz weit weg, außerhalb ihres scheinbar so intimen Freundeskreises.
    »Wir erleben es jedes Mal, dass die Angehörigen oder Freunde unserer Mitglieder irritiert sind, wenn Sie zu uns geschickt werden. Und das häufig unter den mysteriösesten Umständen. Ich meine diese Nachrichten, die verschlossenen Umschläge und dergleichen. Wie auch hier, im Falle unseres guten Jens.«
    Buchheim lachte gekünstelt auf. Dass er Jens' Freund gewesen sein sollte, hielt ich für einen missratenen Witz! Jens hatte außer mir und einer Handvoll loser Bekanntschaften keine Freunde gehabt. Hätte er welche kennengelernt, hätte er sie mir vorgestellt oder zumindest von ihnen erzählt! Von diesem Haus hatte ich jedoch bis dahin nichts gewusst. Über all die Jahre hinweg war ich seine einzige Vertraute gewesen und nun wollten diese fremden Menschen ihn plötzlich besser gekannt haben?
    Alexander beugte sich nach vorne und streifte dabei meinen Oberarm. Ich betrachtete seine dunklen Haare, die sich im Nacken etwas lockten, und sah zu, wie er mir ungefragt Tee nachschenkte. Er war jung, um einiges jünger als ich, und doch hatte er diese bestimmende Ausstrahlung auf mich. Manchen Menschen scheint so etwas in die Wiege gelegt. Mir hat das Leben solch eine Gabe vorenthalten, aber das Leben ist ja nie gerecht. Besonders meines nicht! Schon einmal hatte sich ein Mann wie dieser in mein Leben gepflanzt – lange bevor ich Jens kennenlernte. Ein Mann mit Führungseigenschaften, ein Alphatier, ein Herrscher! Manuel …
    Ich lernte ihn in einem Taxi kennen. Er stieg ein, obwohl ich vor ihm in dem Taxi saß; er riss die Tür auf, grinste überwältigend und sagte: »Es macht Ihnen doch nichts aus, schöne Frau!« – nicht als Frage, sondern als Feststellung. Dann nahm er neben mir auf der Rückbank Platz – ähnlich wie Alexander, der jetzt auf dem Sofa neben mir saß, mit seinem Körper den meinen berührend – und gab dem Fahrer Anweisung, sein Ziel anzufahren. Er hätte es eilig und könnte nicht auf das nächste Taxi warten. Dafür wollte er mir den Umweg bezahlen. Tja, und ich saß da, stumm und dumm wie ein Fisch, und ließ mich widerstandslos entführen. Unterwegs lächelte er mich unentwegt an. Mich, sechzehnjährig, die bisher allen Jungen egal gewesen war, besonders solchen, die so gut aussahen und er – Manuel – war bereits ein richtiger Mann.
    Er witterte wohl den einfachen Fang, den er mit mir gemacht hatte.
    »Wenn du kurz warten würdest, fahren wir gleich noch ins Casal , ein Eis essen«, sagte er und zwinkerte mir zu.
    Ich wartete brav im Taxi. Casal , dort aß ich seit meiner Kindheit Eis. Was sollte mir da passieren? Warum also nicht mit ihm Eis essen gehen? Und, verdammt noch mal, er sah so gut aus! Warum sollte ich nicht auch mal Glück haben? Man muss auch mal etwas wagen! In Gedanken malte ich mir die
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