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Norderney-Bunker

Norderney-Bunker

Titel: Norderney-Bunker
Autoren: Manfred Reuter
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Grundschullehrer. Eines Abends war der bei den Vissers zu Hause aufgetaucht und hatte gefragt, warum sie den kleinen Gent, der immerhin der Klassenprimus sei, nicht fürs Gymnasium anmelden wollten.
    Eines Tages, Gent war gerade 17 Jahre alt, ging sein Taschengeld für den Kauf eines Philosophie-Wörterbuchs drauf. Da musste er sich unangenehmen Fragen stellen. Sein Vater räumte zwar ein, dass Lesen nützlich sein könne, aber warum er so „ein komisches Zeug“ las, wollte ihm nicht einleuchten. Was man im Kopf mit sich trage, sei zwar außer Gefahr, in die Hände eines Gerichtsvollziehers zu fallen, sagte Gents Vater. Aber: „Vielwisserei ersetzt keinen Verstand!“ Dieser Satz traf den jungen Gent Visser wie ein Schlag mit der Keule. Erst Jahre später stellte er fest, dass dieses Zitat von Heraklit stammte und eine besondere Tiefe besaß. Dafür, dass er seinen Vater damals anschnauzte und ihm die Zimmertür vor der Nase zustieß, schämte er sich heute noch.
    Gent war gerade dabei, seine mittlerweile gut 90 Kilogramm von der Treppe hochzuwuchten, da spielte sein Handy „Knocking on Heaven’s Door“. Gent erkannte die Telefonnummer als die seines Hausarztes. Gerade diesen Umstand fand er alles andere als witzig. Trotzdem nahm er das Gespräch an.
    Es meldete sich Karin, eine Mitarbeiterin des Inselarztes. „Kleinen Moment, bitte. Ich stelle zum Doktor durch.“
    Visser wechselte die Farbe.
     

Ein malerischer Abend
    Wie eine große, weiche Decke breitete sich die Nacht über die Insel aus. Vorsichtig, beinahe windstill, zog sie heran, und immer noch schimmerte ein wenig Sonnenlicht über den Spülsaum an die Strände. Die Kristalle in den massigen Steinen der Deckwerke vor der Georgshöhe und am Januskopf funkelten nur noch schwach, dafür umso geheimnisvoller. In der Milchbar , im Riffkieker , bei Cornelius und im Surfcafé saßen die Touristen schweigend bei Kaffee und Wein. Nicht eine einzige Sekunde dieses Sonnenuntergangs, dieses einzigartigen, pittoresken Schauspiels, welches man auf Postkarten als Kitsch abtun würde, wollten sie sich entgehen lassen. Hinter den Häuserfronten erstarben unterdessen die letzten Sonnenstrahlen in den Straßenzügen Richtung Innenstadt, und wie auf Kommando leuchteten die Straßenlaternen auf, die Häuser und Gassen in ein warmes, weiches Licht tauchten.
    Im Foyer des Hotels Weißer Sand schimmerte nur noch die Nachtlampe an der Rezeptionstheke und ein eleganter, dreiarmiger Kerzenleuchter neben dem wuchtigen, weißen Ledersessel, in dem Onno Aden saß und sich an einem Stapel Zeitungen zu schaffen machte. Den jungen Rezeptionisten hatte er bereits nach Hause geschickt, da mit Anreisen an diesem Abend nicht mehr zu rechnen war. Aden hatte die Beine elegant übereinandergeschlagen, sodass man durch die Scheibe von draußen gut erkennen konnte, dass er immer noch seine Prada-Slipper trug, allerdings keine Socken mehr. Statt der Jeans war er nun mit einer sandfarbenen Stoffhose bekleidet, darüber hatte er ein hellblaues, kurzärmeliges Hemd angezogen. Die oberen drei Knöpfe waren geöffnet, weshalb seine dicht gewachsenen, braungrauen Brusthaare am Hals herausquollen. An der silberfarbenen Kordelkette baumelte ein Ring aus Gold.
    Für einen milden, malerischen Frühsommerabend war es im Umfeld des Hotels außergewöhnlich leise. Zwar bestimmten die Touristen längst wieder den Alltag auf der Insel, doch an diesem Abend schienen sich die allermeisten um diese Zeit noch an den Stränden, in Restaurants und in den Cafés zu befinden. Zumindest die Winterstraße war wie ausgestorben. Keine Autos, keine Radfahrer; nur vereinzelte, stumme Spaziergänger. Ein wenig Vogelgezwitscher in den Bäumen und am Himmel, das leise Brummen einer Cessna, die an Norderney vorbei in nordwestlicher Richtung gen Juist in die Nacht hinein schwebte: Die Geräuschkulisse gab sich an diesem Abend geradezu befremdlich zurückhaltend.
    Als er das Knacken hörte und die Lichter im Foyer erloschen, fuhr Onno Aden zusammen. Er war vertieft in einen Artikel im Ostfriesischen Kurier , als er das Geräusch wahrnahm und seinen Blick Richtung Eingang richtete. Er faltete die Zeitung grob zusammen und legte sie zurück auf den kleinen Beistelltisch aus Glas. In das Knistern der Zeitung mischte sich ein weiteres Geräusch, das Aden aber nicht weiter definieren konnte. Er wusste nicht, ob es aus dem Eingangsbereich stammte oder drüben vom Treppenaufgang her kam. Sein Ruf nach Paul Stiegel, dem
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