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Norden ist, wo oben ist

Norden ist, wo oben ist

Titel: Norden ist, wo oben ist
Autoren: Rüdiger Bertram
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Aufstand der Armen und Entrechteten?“
    „Du hast überhaupt keine Ahnung, wer von uns hier arm …“
    Das Knattern eines Motors rettet mich davor, etwas Dummes zu sagen.
    „Los! Runter in den Graben! Schnell!“, rufe ich und packe Mel am Ärmel. Aber die macht keinerlei Anstalten, mir zu folgen. Im Gegenteil. Sie fängt an, mit dem freien Arm zu winken, obwohl der Wagen viel zu weit weg ist, um uns sehen zu können.
    „Lass mich los!“, ruft sie und schüttelt meine Hand ab.
    „Was hast du vor?“
    „Ich bin doch nicht blöde und laufe die hundertdreißig Kilometer zu Fuß. Wir machen Autostopp!“ Mel stellt sich an die Straße und streckt den Daumen raus.
    Die Scheinwerfer des Wagens kommen schnell näher. Er fährt in die richtige Richtung, trotzdem halte ich das Ganze für keine gute Idee. Ich kenne Dutzende Geschichten, in denen ein Anhalter zerstückelt wurde, weil er beim Trampen in den Wagen eines psychopathischen Serienkillers eingestiegen ist. Der Würger von Aachen, nur um mal ein Beispiel zu nennen, hat vor dreißig Jahren fünf Anhalterinnen erdrosselt. Von solchen Typen gibt es viel mehr, als man denkt. Die Zeitungen berichten natürlich nichts davon, weil sich sonst überhaupt niemand mehr auf die Straße wagen würde.
    Als das Auto nur noch etwa hundert Meter von uns entfernt ist, packe ich Mel an den Schultern und reiße sie einfach nach hinten in den Graben. Dabei verliere ich das Gleichgewicht und stürze auf sie. Mel versucht, sich zu befreien, aber ich halte sie am Boden, bis der Wagen an uns vorbeigebraust ist. Ich lasse nicht mal los, als eine Kröte seelenruhig an unseren Köpfen vorbei auf die Straße hopst, wo sie von den Rädern zerquetscht wird.
    Aus den Augenwinkeln kann ich erkennen, dass der Wagen voll besetzt ist. Da sitzen fünf Halbstarke drin, die auf dem Weg in die nächste Disco sind. Oder wo immer man hier draußen seine Nächte verbringt, wenn man achtzehn ist und nicht clever genug, woanders hinzuziehen.
    „Mach das nicht noch einmal!“, knurrt Mel, als ich meinen Griff lockere.
    „Wir können es ja meinetwegen mit Autostopp versuchen“, beschwichtige ich sie, weil ich auch keine Lust habe, hundertdreißig Kilometer zu Fuß zu laufen. „Aber wir sollten ein paar Sicherheitsregeln beachten.“
    „Und welche, bitte schön?“ Mel setzt sich auf und zupft ihren Fuchspelz zurecht, der ihr bei unserer Rangelei von der Schulter gerutscht ist.
    „Erstens: Wir steigen nur bei Frauen ein!“, erkläre ich, weil das unsere Überlebenschance erhöht. Es heißt ja nicht umsonst Serienkiller und nicht Serienkillerin. „Zweitens: Wir nehmen nur Autos, die von auswärts kommen.“
    „Warum das denn?“, fragt Mel.
    „Weil damit die Wahrscheinlichkeit sinkt, dass die Fahrerin uns in den Lokalnachrichten gesehen hat.“
    Mel nickt zustimmend. „Und drittens?“
    „Der Wagen sollte noch mindestens ein halbes Jahr TÜV haben und funktionierende Sicherheitsgurte besitzen“, sage ich, obwohl ich keine Ahnung habe, wie wir das auf die Schnelle überprüfen sollen.
    „Einverstanden.“ Mel reißt eine Tüte Chips auf. Es ist unsere letzte, den Rest des Proviants haben wir während unserer Nachtwanderung aufgefuttert.
    Dass Mel und ich uns einig sind, bringt uns aber auch nicht von hier weg, weil sich in den nächsten Stunden überhaupt kein Auto mehr auf der Straße blicken lässt. Wenn da nicht der Hinweis nach Rostock wäre, könnte man glatt meinen, wir stünden am Ende einer Sackgasse. Wenigstens regnet es nicht, kalt ist es trotzdem. Irgendwann kommen die fünf Jugendlichen aus der Disco zurück. Dann ist wieder Ruhe.
    Es dämmert bereits, als endlich ein Auto erscheint. Es hat ein Kölner Kennzeichen und am Steuer sitzt eine Frau.
    Also alles perfekt.
    Rostock, wir kommen!

 

    Wir stellen uns an den Straßenrand und strecken den Daumen raus.
    Die Frau stoppt aber nicht, sondern braust einfach an uns vorbei.
    „Spinnt die Alte? Warum hält die nicht an?“, flucht Mel und zeigt dem Heck des Wagens ihren Mittelfinger.
    Ich kann die Frau verstehen. Ich würde uns auch nicht mitnehmen. Unter Anhaltern gibt es mit Sicherheit genau so viele Serienkiller wie auf der anderen Seite. Und da ist es ganz und gar nicht vertrauenerweckend, wenn ich am Gürtel ein Florett stecken habe und Mel im Hosenbund eine Pistole trägt. Dass die nur aus Seife ist, kann man im Vorbeifahren ja nicht erkennen.
    Mel leuchtet das ein. So viel Übereinstimmung zwischen uns ist mir beinahe schon
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