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Nochmal tanzen - Roman

Nochmal tanzen - Roman

Titel: Nochmal tanzen - Roman
Autoren: Limmat-Verlag <Zürich>
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Südfrankreich und eine Woche im Fotokurs. Sie hätte wissen müssen, dass sich Sarah ohne sie einsam fühlte. Warum suchte sie ausgerechnet Miriams Gesellschaft? Weil Miriam von der Schule geflogen war? Nach den Ferien erzählte Sarah, Miriam habe ihren Weg gefunden. «Sie ist nicht mehr wütend über ihren Rausschmiss», sagte sie, «Miriam regt sich auch sonst über nichts mehr auf.» Fleur wusste nicht, was daran gut sein sollte. Sie und Sarah waren stolz darauf, dass Ungerechtigkeit sie empörte. Sie schwiegen nicht, wenn ein Mitschüler fertiggemacht wurde. Das Bild eines hungernden Kindes im Fernsehen trieb ihnen Tränen in die Augen. «Wir wollen nie abstumpfen», schrieb Sarah in Fleurs und Fleur in Sarahs Geschichtsbuch. Aus Sorge um die Umwelt klebten sie Protestkleber gegen Atomkraft auf Heizpilze und WC-Türen. Sarah fuhr auch im Winter mit dem Fahrrad zur Schule und nahm an Waldputzaktionen teil. Überhaupt war sie die Aktivere als Fleur. «Du bist die Glut, ich das Feuer», sagte sie. Und nun bewundert sie Miriams Ausgeglichenheit. «Der Glaube gibt Miriam die Kraft, jede Unbill auszuhalten.» Sarah sagte tatsächlich «Unbill». «Wie kannst du für Gefühllosigkeit eintreten», warf Fleur ihr vor. «Miriam ist nicht ruhig, sondern gleichgültig.» Vor drei Wochen zog Sarah zu Miriam und verließ die Schule.
    Fleur wird überfallen von der Helligkeit des renovierten Kirchenschiffs. Die Farben strahlen eine Zuversicht aus, die sie bedrängt. Sie packt ihre Kamera aus und hält fest, wie das Sonnenlicht in Bündeln durch eine Rosette fällt und einen Säugling an der Empore beleuchtet. Wie kamen die Künstler dazu, Engel als Babys darzustellen? Ein Baby, das fliegt, statt zu zappeln. Ein Engel, der schreit und Milch ausspuckt.
    Fleur geht an Bankreihen vorbei zur Marienkapelle, vor der Kerzen brennen. Maria trägt ein besticktes, erdbeerrotes Kleid und ist mit Goldschmuck behängt wie eine Königin. Das Jesuskind sitzt aufrecht auf ihrem Arm. Fleur fotografiert die Statue. Neben ihr bekreuzigen sich zwei Tamilinnen, legen einen Umschlag nieder. Einen Brief? Eine Spende? Stünde Sarah neben ihr und wäre sie wie früher, flüsterte Fleur ihr zu: «Mit dem Geld geht Maria shoppen.»
    Im Augenwinkel sieht sie, dass Lehrer Minder sie zu einer Wand voller Bildtafeln winkt. Ihre Schuhsohlen quietschen, als sie zu ihm eilt. Vor der Wand lacht sie auf. Auf fast allen Bildern ist Maria wie von Kinderhand gemalt zu sehen. Einmal thront sie auf einer Wolke über einer kurvigen Landstraße, auf der ein Auto mit einem Traktor zusammengekracht ist. Auf einem anderen Bild steht sie am Himmel über einem Mühlerad. In Schnörkelschrift steht darunter: «Madonna hat geholfen.» Der Geschichtslehrer erklärt, die Votivtafeln seien Teil eines Handels. Der Gläubige verspreche Maria unter der Bedingung, dass sie ihm aus der Patsche helfe, ein Bild in der Wallfahrtskirche und einen Eintrag ins Mirakelbuch. «Votiv kommt vom lateinischen votum, Gelübde. Hier», Minder deutet auf eine Frau, der ein Arzt den Bauch aufschneidet, «bat ein Mann darum, dass seine Frau nach der Operation wieder gesund werde. Zum Dank verlobte er sich mit Maria.» Minder dreht sich zur Wand. «Wie ihr seht, ist Maria nicht auf allen Tafeln abgebildet. Das Gelöbnis im Text richtet sich jedoch immer an sie.» Cleophea fragt, ob die Gläubigen das Bild selbst gemalt haben. Minder schüttelt den Kopf. Sogenannte Freiluftmaler hätten sie im Auftrag und auf Bezahlung der Bittsteller gemacht. «Natürlich mussten sie den Kirchenhäuptern genehm sein. Offensichtlich mochten sie naive Malerei.»
    Fleur tritt näher heran. Maria heilt für ein Bild – und nicht einmal für ein besonders gutes. Das Pferd, das auf offenem Feld scheut, hält den Kopf unnatürlich. Der Bauer hinter ihm ist besser getroffen. Auf einer anderen Tafel stürzt ein Mann kopfvoran von einem Baugerüst. Im Hintergrund rauchen Industriekamine. «Madonna ist mir beigestanden.» Fleurs Augen gleiten von Tafel zu Tafel. Eine Wand voller überlebter Unfälle, überwundener Krankheiten, gerettetem Vieh. Sie hebt die Hand. «Was ist mit den Bitten, die nicht erhört wurden?» Minder lächelt. «Gute Frage. Man könnte Wunderbücher und Votivtafeln als Werbung für Wallfahrten bezeichnen. Enttäuschungen haben da keinen Platz.» Als das Kichern verstummt, fügt er hinzu: «Die Hoffnung zu nähren, bedeutet Macht zu haben. Die Kirche ist nicht das einzige Gesellschaftssystem, das darauf
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