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Niemand

Niemand

Titel: Niemand
Autoren: Nicole Rensmann
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schrumpfte und nun roch es nach Neugier. Das war gut. Niemand mochte die würzige Neugier. »Ich bin Niemand, Herrscher des Niemandslandes.«
    »Aber wie kann ein Niemand ein Herrscher sein?«
    »Weil Niemand Sonst mein Vater ist und ich sein Sohn bin.«
    Das Ding trocknete sich das Gesicht mit dem Ärmel ab, mit dem es sich zuvor den Rotz weggewischt hatte. Neugierig blickte es Niemand an. Also lauschte es nach seiner Stimme. Schlau! Doch dann fragte es: »Müsste nicht dein Vater der Herrscher sein?«
    Niemand lächelte. Niedlich, ohne Zweifel, aber es hatte keine Ahnung.
    »Nein, nur Söhne können Herrscher sein.«
    »War dein Vater nicht auch mal ein Sohn?«
    Niemand überlegte und glaubte die Antwort zu wissen: »Nein, ein Sohn war der nie. Aber das ist auch völlig egal. Sag mir lieber, wer du bist.«
    »Ich bin Nina.«
    »Nina.«
    Das Wort prickelte geheimnisvoll auf der Zunge wie gestohlener Honig. Niemand sagte ein paar Mal schnell hintereinander: »Nina, Nina, Nina«, und dann leise und gedehnt. »Niiiinnnnnaaaaaa.« Er fand: »Das klingt schön.«
    »Kannst du mich nach Hause bringen?«, fragte Nina.
    »Von wo bist du denn gekommen?«
    Nina drehte sich zur Seite und zeigte nach rechts: »Ich glaube von da hinten. Oder doch von da?« Sie schlug die Hände vor ihr Gesicht. »Ich weiß es nicht!«
    »Aber du musst doch wissen, wo du wohnst.« Niemand hatte noch nie von Ninas im Niemandsland gehört. Und er ahnte, dass Niemand Sonst sehr böse auf ihn sein würde, sobald er von einem Wesen hörte, das er nicht kannte. Niemand Sonst machte Niemand für alles verantwortlich, was er nicht befohlen hatte oder ihm seltsam erschien.
    Nina gab ihm keine Antwort, sie weinte und schluchzte dabei nun so laut, dass sich Niemand besorgt umsah. Die Patrouillen erstarrten tagsüber wieder zu Stein, doch es gab Boten, die seinem Vater von dem kleinen Ding berichten könnten. Er würde es als Verräter einsperren lassen, und Niemand gleich dazu.
    »Ruhig. Pssst. Du musst leise sein, sonst kommt die Rote Armee.«
    »Rote Armee?« Sie zitterte, aber sie weinte nicht mehr.
    »Die schleppen dich zu meinem Vater ab.«
    »Aber dein Vater weiß bestimmt, wie ich nach Hause komme.«
    Nina blickte zur Seite, als ob dort ihre Heimat wäre. »Niemand«, sagte sie leise, »ich habe Angst.«
    Niemand rückte ein Stück näher zu Nina. Er hatte noch nie eine Nina berührt, überhaupt noch nie etwas wie sie. Er ballte seine Hand zu einer Faust. Es kitzelte und kribbelte in seinem Bauch – ein neues Gefühl, fast so stark wie das Beben des Teufels, aber schöner. Viel, viel schöner. So schön, dass er sich aufgeregt auf seine Unterlippe biss. Auch Niemand hatte Lippen, solche wie Nina, die ihre fest aufeinanderpresste und mit weit aufgerissenen Augen ins Gras blickte.
    Langsam entspannte er seine Finger, öffnete seine Faust und legte seine Hand auf Ninas. Ihre Haut fühlte sich warm und zart an. Sie war feucht von den Tränen, aber Niemand wollte sie niemals wieder loslassen. Nina war echt. Sie zuckte unter seiner Berührung zusammen und sah auf ihre Hand. Dann zur Seite und dabei Niemand an.
    »Ich sehe dich nicht, aber ich spüre deine Finger.«
    Niemand rückte nah zu Nina, ihre Schultern berührten sich.
    So blieben sie eine Weile sitzen und betrachteten die Grashalme, die ein seichter Wind zum Tanzen brachte: Nina, die nicht mehr weinte, und Niemand, der zum ersten Mal in seinem Leben glaubte, eines Tages mehr als ein Niemand zu sein.
    »Warum heißt du Niemand?«
    »Ich weiß nicht. Vielleicht weil ich den Namen meines Vaters annehmen musste?«
    »Aber niemand heißt so.«
    »Ja. Ich bin Niemand.«
    »Nein. Kein Mensch heißt wie du.« Nina kicherte, was so lieblich klang, dass Niemand kurz die Augen schloss, dann drang ein von Nina beiläufig erwähntes Wort in sein Bewusstsein. »Mensch?«, wiederholte er. »Bist du ein Mensch? Bist du über die Grenze gekommen?«
    Niemand erschrak und ließ Ninas Hand los. »Wie hast du das geschafft?«
        

2.

    »Ich weiß es nicht.« Hastig wischte Nina sich frische Tränen von den Wangen. »Ich habe mich verirrt, als ich mit meiner Schwester zur Oma gehen wollte. Die ist krank, sie stirbt bald, sagt meine Mutter. Suse und ich haben uns darüber gestritten, wer ihr einen schöneren Blumenstrauß gepflückt hat.« Nina beruhigte sich nur langsam. »Suse hat mich angeschrien und ist weggelaufen. Ich habe nach ihr gesucht, aber sie nicht finden können. Und die Blumen habe ich auch
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