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Niemand

Niemand

Titel: Niemand
Autoren: Nicole Rensmann
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Märchen erzählen musste. Aber da die Zwerge nur selten mit den Niemandsländern sprachen und ihre Legende für sich behielten, war eine Studie nicht möglich. Ob all das, was über sie berichtet wurde, der Wahrheit entsprach, wussten nur sie selbst und vermutlich nicht einmal das.
      
    »Da sind sie wieder. Diese Stimmen«, flüsterte Nina.
    »Viel zu leise. Ihr Gezeter hätte dich von hier fernhalten müssen.«
    »Wollt ihr keine Besucher?«
    »Was sollten die bringen?«
    Nina zuckte mit den Achseln. »Blumen? Freude, Spaß, Kuchen? Geschenke?«
    »Geschenke?« Niemand hatte noch nie ein Geschenk erhalten. »Da sind sie.«
    Auf einer Lichtung, umgeben von belaubten Bäumen, stand ein altes Haus. Der Putz bröckelte von den einst weiß gekalkten Wänden ab, die nun schmutzig und verwaschen aussahen. Die Ecken waren mit Moos überwachsen. Schon vor vielen Jahren hatten sich die Äste einer Kastanie in das Dach gebohrt, die im Laufe der Zeit so dick und kräftig geworden waren, dass sie jeden Riss ausfüllten und ihr dichtes Blätterwerk im Sommer das kleine Haus zusätzlich vor Regen und Sonne schützte. Im Winter rutschten Schnee und Eis an den Ästen herunter und verwandelten das Innere des Hauses in einen Schneepalast.
    Nina fühlte sich allein.
    Sie spürte Niemands Hand in ihrer, dennoch fürchtete sie sich, als sie um das Haus zum Eingang gingen. Sie zitterte. Die Stimmen wurden lauter.
    Dann fragte jemand: »Was ist das denn?«
    Und ein anderer sagte: »Hübsches kleines Ding.«
    »Hübsch? Hübsch? Schau dir diese Nase an und das hässliche Kraut auf ihrem Kopf; als habe sie sich einen Topf mit Spaghetti darüber geschüttet.«
    »Ich finde sie niedlich! Es ist ein Mädchen, nicht wahr?«
    »Natürlich ist es ein Mädchen. Dachtest du ein Wurzelmännchen?«
    »Wie alt mag sie sein? Fünfunddreißig?«
    »Mindestens hundert. Guck dir an, wie groß die ist. Und diese Hände! Riesig, hässlich, schrumpelig.«
    »Aber wenn sie hundert ist, dann kann sie doch kein Mädchen mehr sein.«
    »Ich bin fast fünfzehn«, sagte Nina, sie wollte nicht länger als eine Oma dastehen und entdeckte auch an ihren Händen nichts Ungewöhnliches. Sie sah sich um, doch außer den Ladenhaltern, die in der Wand des alten Hauses steckten und sich lässig gegen die verwitterten Fensterläden lehnten, entdeckte sie kein Wesen, das hätte sprechen können.
    »Pssst! Stillgestanden!«, sagte nun der eine.
    »Stillgestanden! Stillgestanden!«, kreischte der andere. »Wie soll ich stillstehen ohne Beine, du Idiot?«
    »Psst. Riech doch: Pfefferminz. Der Herrscher ist bei ihr.«
    Schlagartig kehrte Ruhe ein.
    Nina löste sich von Niemand. Sie ging auf das Haus zu, beugte sich ein Stück nach vorn und betrachtete den linken Feststeller, der die grüne Fensterlade an die Hauswand drückte. Mit dem Zeigefinger klappte sie den Halter nach unten und wieder hoch. Die Scharniere quietschten. Es klang wie das Jammern eines Babys.
    »Hab ich mir das eingebildet?«
    Eine Antwort erhielt sie nicht. Nina stupste gegen die tintenblaue Mütze. »Du bist nichts weiter als ein Fensterladenfeststellerdingsbums. Und kannst gar nicht reden.« Doch sicher war sie sich da nicht, hier war alles seltsam. Sie sah zur Seite, in der Hoffnung, dass Niemand nicht weit von ihr entfernt stand, und fragte leise: »Oder? Niemand?«
      
    Der linke Laberkopp wollte flüchten, aber ohne Beine war das unmöglich. Und zur Seite rutschen konnte er auch nicht. Er fühlte sich diesem schrecklichen Gör mit dem Spaghettihaar hilflos ausgeliefert. In seinem Kopf drehte sich alles.
    Seit Jahrzehnten hatte es keiner gewagt, ihn nach unten zu klappen, seine Scharniere knirschten und es kitzelte überall am Körper, als hätte ihn das Mädchen mit Juckpulver eingeschmiert. Ihre riesengroßen Augen schwebten wie blaue Ballons vor ihm und schienen ihn zu hypnotisieren. Nun wurde ihm auch noch schlecht. Er holte tief Luft und spie dem blöden Mädchen ins Gesicht. »Das hast du jetzt davon.«
      
    Nina zuckte zusammen, »Bah, das ist ekelig!«, und wischte sich den rostfarbenen Speichel mit dem Ärmel ab.
    »Was ist passiert?«, fragte Niemand, der von der Attacke des Fensterladenfeststellers anscheinend nichts bemerkt hatte. Wo war er gewesen? Hatte er Ausschau nach der Roten Armee, Überhaupt Niemand oder sonstigen Spionen gehalten?
    »Er hat mich angespuckt!«, sagte Nina und fügte hinzu: »Wieso reden sie?«
    »Warum sollten sie nicht reden?« Niemand schien nicht überrascht,
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