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Niedertracht. Alpenkrimi

Niedertracht. Alpenkrimi

Titel: Niedertracht. Alpenkrimi
Autoren: Jörg Maurer
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schlagen, er legte den Kopf in den Nacken und blickte nach oben. Ein Riesenfahrzeug schwebte da über ihm, das machte den ganzen Krach, der das Kind vertrieben hatte. Ein Loch war in dem Riesenfahrzeug zu sehen und eine Schnur kam da heraus, die bis zu ihm hinreichte. Und wie er sich auch drehte und wendete, er konnte nicht sehen, wer ihn da festhielt.
     
    Nicole hielt das Kind fest umklammert.
    »Hier sind wir!«, schrie sie, als sie Maria und Hölleisen aus dem Auto springen sah. Die Hintertüren des Polizeiwagens flogen im selben Moment auf. Die Eltern rannten auf sie zu und schlossen ihr kleines Mädchen in die Arme.
    »Helfen Sie mir hoch«, sagte Nicole zu Franz Hölleisen. »Ich habe mich beim Sprung aus dem Hubschrauber verletzt.«
     
    »Hören Sie endlich auf mit dem Gezappel!«, schrie Jennerwein. »Das hat keinen Sinn!«
    Er versuchte wieder und wieder, den zweiten Haken in den Hosengürtel des Mannes einzuhängen. Er hatte sein Gesicht immer noch nicht gesehen.
    »Sie haben keine Chance. Geben Sie auf. Wir landen bald.«
     
    »Ich kann hier nirgends runtergehen«, brüllte der Hubschrauberpilot.
    »Da vorne ist ein freies Wiesenstück«, schrie Stecher.
    »Das geht nicht. Wir können bei dem Wind niemanden absetzen.«
    »Wir müssen versuchen, die beiden langsam hochzuziehen.«
    Hauptmann Stecher war jetzt merklich nervös geworden. Er schnaubte vor Wut. Ein solches Manöver, und dann mit Zivilisten!
     
    Jennerwein blickte nach oben: zehn Meter. Jennerwein blickte wieder nach unten, und der Atem stockte ihm: Sie flogen gerade über eine Schlucht hinweg, hundert Meter ging es da hinunter. Die Bemühungen des Mannes freizukommen, wurden nach einer Ruhepause wieder stärker. Und jetzt begriff Jennerwein: Der
wollte
abstürzen, der wollte sich befreien, der wollte fliegen und sich einen bequemen Abgang verschaffen. Gezielt griff der Mann nach Jennerweins Händen, um sie zu lösen. Nichts da, den Gefallen werde ich dir nicht tun, so einen Flug ins Nichts zuzulassen, du wirst schon ein paar Jahre nachdenken müssen über das, was du getan hast. Du kannst dich nicht einfach verdrücken, ich bin dafür da, dass Leute wie du aus dem Verkehr gezogen werden. Jennerwein spürte, wie das Drahtseil ruckelte, wie sie beide langsam hochgezogen wurden. Die Muskeln in seinem Unterarm brannten wie Feuer. Noch wenige Sekunden, dann würden die Männer dort oben den Lebensmüden packen und ihn hineinziehen in das Innere des Ungeheuers, nur wenige Sekunden noch, dann hatte er es geschafft. Jennerwein spürte plötzlich einen scharfen, schneidenden Schmerz in seinem Unterarm. Er spürte einen noch größeren Schmerz in seiner Hand. Dann in der anderen Hand. Von oben griffen schon helfende Arme herunter, sie griffen noch ins Leere, aber gleich hatten sie ihn erreicht. Der Schmerz in seinen Händen wurde jetzt unerträglich, er musste loslassen.
     
    Er flog! Er war frei! In seinem Mund spürte er den Geschmack von Blut, aber der Putzi hatte es geschafft. Er hatte sich mit wütenden Bissen aus der Umklammerung gelöst, er schwebte jetzt, und er hatte das Gefühl, dass er schon seit Ewigkeiten so schwebte. Die bedrohlichen Geräusche des Hubschraubers wurden leiser und leiser, er glitt immer mehr in die Stille hinein. Keiner der Wiedergeborenen hatte diesen Schritt gewagt, alle hatten sie sich dafür entschieden, ihr kleines, armseliges Leben zu Ende zu leben. Durch seine Entscheidung hatte er sich – und auch sie alle! – erlöst. Das Geläute der Kirchenglocken schwoll an. Er öffnete die Augen. Schon oft hatte er diese Alpenlandschaft von den Berggipfeln aus gesehen. Jetzt flog er darüber hinweg, wie ein Vogel, ganz ohne Anstrengung. Der Putzi drehte sich auf den Rücken und blinzelte hoch ins gleißende Licht. Dort oben war das strahlende Blau des Himmels, dort oben war die Sonne. Aber warum flog der Hubschrauber immer noch über ihm? Warum war da immer noch dieser Motorenlärm? Er wollte diesen Hubschrauber nicht mehr sehen, er wollte die schöne Landschaft dort unten betrachten. Doch er schaffte es nicht mehr, sich in die Bauchlage zu drehen. Das Fangnetz hatte sich zusammengezogen.

53
    Spar dir das Lied, Senner.
    Überspring die Strophe
    und komm gleich zum Jodler.
    Gottfried Benn, »Verrostete Kühe, Klarinettengewimmer«
    Die Helden des Tages standen draußen im Gang, vor dem schwer bewachten Krankenzimmer. Sie trugen Schlingen um den Hals, sie hatten zerkratzte Gesichter und pflasterverklebte Arme, zumindest
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