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Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)

Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)

Titel: Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)
Autoren: Undine Zimmer
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die zu vier- bis fünfstöckigen Wohnblöcken führten. Vor jedem Komplex waren Büsche gepflanzt, ein kleiner Spielplatz und eine Wiese angelegt, deren Gras meist von der Sonne verbrannt war. Daran änderten die Rasensprenger auch nichts.
    Im Vergleich mit Kreuzberg, mit unseren Spazierwegen am Paul-Linke-Ufer, wo die Schwäne auf dem Kanal schwammen und eine ausrangierte Eisenbahnlokomotive zum Klettern einlud, empfand ich den Spandauer Forst als todlangweilig. In Kreuzberg gab es Laubbäume und bunte Büsche, in Spandau nur Kiefern und verbrannten Rasen. Der von meiner Mutter so gelobte Waldspielplatz war braver als meine Autoreifenschaukel im Kreuzberger Waldeckpark, wo auf der Wiese neben den Rosenbüschen manchmal ein paar ältere Kinder ihre Schildkröten herumkriechen ließen. In Kreuzberg konnte immer alles passieren, die Wege waren voller Abenteuer, Menschen, Zwischengänge, Durchgänge und Querstraßen. Auf dem Weg nach Hause kam ich an der Wiese mit den Ponys oder am Wochenmarkt vor dem Halleschen Tor vorbei, wo ich manchmal heruntergefallene Blumen sammeln durfte. In Spandau schien alles vorhersehbar – öde Wohnstraßen, sandige Schrebergärten und Kleinhauskolonien.
    Während ich in Kreuzberg leicht Kontakte knüpfte oder mich vor größeren Kindern auf meinen Schleichwegen versteckte, konnte ich in Spandau lange an der Tür eines Nachbarn klingeln, um nach einem Ei oder etwas Mehl zu fragen. Niemand würde aufmachen. Die meisten Mitbewohner gingen nur nach draußen, wenn sie ihre Hunde ausführten. Danach stank der Fahrstuhl immer nach Hund.
    Meine Mutter und ich haben in Spandau nicht schlechter gelebt als viele andere dort. Spandauer sehen sich nicht als Berliner, sondern als »Spandauer«. Dass ich später auch so bezeichnet wurde, hat mich immer geärgert. Ich bin nie Spandauerin geworden, ich war und blieb Berlinerin. Aber durch unseren Umzug war ich an der Peripherie gelandet, auch wenn meine Mutter mir das hartnäckig als Verbesserung verkaufen wollte. Vielleicht war es eine für sie.
    Das Wort »wohnen« ist etymologisch mit »Wonne« verwandt. Meine Mutter fühlte sich in Spandau wohl und geborgen. Ich bin dort nie heimisch geworden. Monatelang rückte ich an den Möbeln meines Zimmers herum, in der Hoffnung, dass es sich eines Tages doch noch wie ein richtiges »Zuhause« anfühlen würde. Aber unserer Wohnung fehlte das Selbstbewusstsein. Vielleicht war ich deshalb lieber bei anderen. Ich bin nie richtig in unserem neuen Zuhause angekommen. Und diese innere Heimatlosigkeit war nicht an unseren Möbeln sichtbar oder an den gestrickten Gardinen – aber sie war immer spürbar.

KAPITEL DREI
    Es zählt, was fehlt
    In dem ich Schlittschuhfahren und Sonntagsessen nicht mit meinen Eltern, sondern in den Familien meiner Freunde kennenlerne und das Angebot meiner Mutter »Wir können ja spazieren gehen« genervt ablehne.
    »Kommst du mit raus?«, fragt mich meine Mutter hoffnungsvoll.
    »Wohin?«, murre ich zurück.
    »In den Wald, an die frische Luft, zu den Wildschweinen im Gehege«, lockt sie.
    »Die Wildschweine stinken«, sage ich, »und Spazierengehen ist langweilig.«
    So lief jedes zweite Gespräch zwischen meiner Mutter und mir ab, wenn wir gemeinsam etwas unternehmen wollten. Meine Mutter ist fast täglich in den Wald gegangen. Dabei sah der immer gleich aus: die Wege trocken, der Boden sandig; deswegen wachsen so viele Kiefern in Spandau, haben sie uns in der Schule erzählt. Es gibt kein Moos, keine großen Steine, hinter denen man skandinavische Trolle mit großen Nasen vermuten könnte, keine Beeren, nur die Waldwege, die zum Sonntagsspazieren und Fahrradfahren geplättet sind. Dort laufen ältere Herrschaften mit Hunden und im Frühjahr quaken ein paar Frösche an einem mickrigen Teich. Die größeren Tiere sind in Gehegen. Wildschweine mit Spaghetti zu füttern ist die Attraktion des Familienspaziergangs, das hat mich nie so begeistert. Der Spandauer Forst ist das Revier meiner Mutter. Sie kennt jeden Stein, jeden besonderen Strauch, und früher hat sie mich damit überredet, dass sie Schlangen oder Salamander im Wald gesehen hat, die sich aber wundersamerweise immer versteckten, wenn ich mitkam. Spazierengehen hält meine Mutter zusammen und strukturiert ihren Tag. Meinen nicht.
    Der andere immer wiederkehrende Dialog verlief ungefähr so:
    »Mama, mir ist langweilig.«
    »Was willst du denn machen?«
    »Weiß nicht.«
    »Kommst du mit spazieren?«
    »Nein.«
    »Wir können auch
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