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Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)

Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)

Titel: Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)
Autoren: Undine Zimmer
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Zimmer. Und Mamas Zimmer war Wohnzimmer, Schlafzimmer, Esszimmer und Arbeitszimmer zugleich. In meinen ersten acht Jahren machte nur eine Matratze auf dem Boden ohne Bettgestell das Schlafzimmer meiner Mutter aus. Gleich daneben befand sich unser »Esszimmer«: ein langer brauner Couchtisch. Das Wohnzimmer bestand aus einem senffarbenen Sessel, dem holzverkleideten Radio aus den Siebzigern mit runden silbernen Drehknöpfen und dem Plattenspieler, alles Sachen, die wir aus der Wohnung meines Vaters mitgenommen hatten.
    Unsere erste Wohnung lag im Hochparterre eines typischen Sechzigerjahrebaus in der Alexandrinenstraße in Westberlin, im braveren Teil von Kreuzberg SW61. Wir hatten zwei Zimmer, vom Wohn-Mama-Schlaf-Zimmer ging auf der einen Seite eine kleine Einbauküche ab, auf der anderen eine Loggia. Im Flur verbargen sich in einem deckenhohen Wandschrank die Kleider meiner Mutter und geheimnisvolle Gegenstände aus ihrem Leben ohne mich. Was bei anderen die große Couch ist, war bei uns die Badewanne. Ich habe, als ich größer war, stundenlang in der Badewanne gesessen, gelesen und durfte manchmal auch dort essen.
    An mein eigenes erstes Zimmer erinnere ich mich kaum. Darin stand ein Bett, eine Holzkiste für meine Spielsachen und eine Theaterstellwand, für die meine Mutter vier Handpuppen: einen König, eine Königin, einen Frosch und eine Prinzessin, gekauft hatte. Mir bedeuteten der Park und die Wiese draußen vor der Tür mehr. Später wanderte ein einfaches unlackiertes Kellerregal ins Mama-Zimmer. Das hatte uns meine Tante Magda 1983 gekauft, als sie das einzige Mal aus den USA zu Besuch kam. Meine Mutter hatte damals nicht einmal dafür genug Geld. Im IKEA-Katalog ist das Regal bis heute bei den Kellermöbeln unter dem Namen »Ivar« zu finden. Wer wirklich an der Einrichtung spart, den erkennt man meist daran, dass er das Ivar-Regal im Wohnzimmer stehen hat.
    Ein zweites kleines Ivar-Regal wurde unsere Bibliothek. Weltliteratur auf fünf Buchmetern: dank dem Musik- und Buchversand Zweitausendeins standen hier unter anderen die gesammelten Werke von Camus und Dostojewski, zwei Bände von Gogol, Kafka, »Die Odyssee«, das »Glasperlenspiel« von Hermann Hesse und einige gelbe Bändchen von Reclam: »Der gute Gott von Manhattan« von Ingeborg Bachmann, »Die Vögel« von Aristophanes und die Märchen der Gebrüder Grimm.
    In einer Holzkiste bewahrten wir die Plattensammlung meiner Mutter auf, Jazz, Opern und etwas Pop: »Der Troubador« von Giuseppe Verdi, »Tosca« von Giacomo Puccini, »Carmen« von George Bizet, »Die Entführung aus dem Serail« von Wolfgang Amadeus Mozart und gleich daneben Jimi Hendrix und Jethro Tull, Gianna Nannini, Oscar Peterson und Louis Armstrong. Ich habe oft die französischen Libretti der Carmen mitgelesen, während meine Mutter beim Bügeln oder Putzen die Oper hörte. Nur ab und zu habe ich auf die deutsche Übersetzung geschielt, die gleich daneben stand. Die Geschichte von Carmen hat mich wie ein Lieblingsmärchen begleitet. Außerdem ist Carmen eine selbstbewusste Frau, die sich nicht um die Normen der Gesellschaft schert, eine, die ihrer Leidenschaft folgt, auch im Alleingang. Ein erstes Vorbild. Sie war immer faszinierender als die brave Micaëla, die Picknickkörbchen trägt und auf einen Mann wartet.
    In der ganzen Wohnung hingen an den Wänden Bilder von Marc Chagall. Wenn ich meine Augen schließe und an die Farben meiner Kindheit denke, dann sehe ich das Blau, das im Hintergrund so vieler seiner Bilder ist, das Rosa und Elfenbeinweiß der »Zirkustänzerin«, die im Zimmer meiner Mutter hing, und das Gelb des »Jongleurs« mit dem Schnabel und der Uhr. Sollte ich beschreiben, was Liebe für mich ist, würde ich an ein Bild von Chagall denken, an den »Spaziergang«, auf dem ein Paar – sie im lavendelfarbenen Kleid, er über dem Boden schwebend und sie haltend – die Grenzen der Schwerkraft überwindet. Diese Bilder habe ich Millionen Male betrachtet. Jedes steht für ein ganz besonderes Gefühl.
    Neben dem Bett meiner Mutter hing viele Jahre ein Wandteppich. Er gehörte einfach dazu. Erst später erkannte ich in dem schwarzen Viereck in der Mitte die Hadsch in Mekka und in den vielen Figuren mit den orangen und roten Gewändern und den Turbanen auf den Köpfen Pilger. Daneben liest meine Mutter das Alte Testament.
    Arme Leute haben keine Bilderrahmen. Wir steckten unsere Bilder vorsichtig mit Stecknadeln in die Tapete. Selbst etwas bauen konnten wir nicht –
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