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Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)

Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)

Titel: Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)
Autoren: Undine Zimmer
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aufzustehen. Ist es die Angst, dass sich alles wiederholt?
    Heute redet alle Welt über Hartz IV. Die Menschen glauben, dank der Supernanny das Leben am Existenzminimum zu kennen – und haben doch keine Ahnung. Genauso wenig wie die Studenten, die sich nach der Uni ein paar Monate arbeitslos melden, bis sie den nächsten Job haben. So wie der Entwicklungshelfer nur zu Gast in der »Dritten Welt« ist, so haben auch sie das Rückfahrticket immer in der Tasche.
    Ein Kind von Langzeitarbeitslosen zu sein kann viel bedeuten. Am prägendsten sind vor allem die fehlenden Erfahrungen – wie ein Familienurlaub ist, wie gut ein Sonntagsessen schmecken kann und wie hilfreich in manchen Situationen spendable Patentanten doch sein können. Am heftigsten vermisst man jemanden an seiner Seite, der einem jenes Grundvertrauen einflößt, das andere schon mit der Muttermilch eingesogen haben. Denn auch Chancen brauchen Mut und meist auch etwas Geld. Das fehlt aber. Geigenunterricht? Braucht eine Geige. Besuch im Technik-Museum? Kostet Eintritt. Bildung durch Reisen? Unbezahlbar. Umso mehr bewundere ich an meiner Mutter, dass sie es immer wieder schaffte, mir Erfahrungen zu ermöglichen, die andere Hartz-IV-Kinder wohl kaum machen können: Ich erhielt Klarinettenunterricht, ich nahm Ballettstunden, ich machte mein Abitur im Ausland.
    Meine Mutter hat sich, als sie schon Jahre lang arbeitslos war, einen Computer gekauft. Eine teure Anschaffung. Wozu brauchen Arbeitslose Computer und Internet? Sind Flachbildschirme und MP3-Player denn nicht bloße Statussymbole? Dabei sind die multimediale Welt und das Internet die besten und billigsten Werkzeuge, um Anschluss zu finden, teilzuhaben, sich weiterzubilden, um vielleicht sogar der so gern beschworenen Chancengleichheit zumindest näherzukommen. Aber Arbeitslose dürfen noch lange nicht, was andere Menschen dürfen. Sie dürfen nicht einmal die Stadt verlassen, die nächste Vorladung könnte jeden Tag im Briefkasten liegen. Jede Ausnahme muss akribisch beantragt und begründet werden. Man muss für jede Entscheidung eine Rechtfertigung parat haben. Immer. Das kriecht ins Denken.
    Nichts wird in den Medien so gern diskutiert wie der Speiseplan für Hartz-IVler und ihre vermeintliche Vorliebe für Fastfood. Ich kann nur sagen, dass wir eigentlich nie Geld für Burger übrig hatten. Bei uns gab es auch selten Zucchini oder Auberginen, und Besuche beim Bäcker waren fast schon ein kleiner Luxus. Aber Äpfel waren immer da und Möhren. Vielleicht waren wir die Ausnahme. Meine Mutter legte Wert auf »gesunde Ernährung« – aber auch dazu gehört Wissen, gehört Bildung.
    Ich habe mir früher nie viele Gedanken darüber gemacht, dass wir weniger hatten als andere. Ich habe nie darüber gegrübelt, was die Situation meiner Eltern für meine Zukunft bedeuten könnte. Im Falkenhagener Feld in Berlin-Spandau, wo ich zur Schule ging, gab es viele Sozialwohnungen und Hochhäuser. Hier wohnten überwiegend Arbeiterfamilien, Linke, polnische und türkische Familien. Von ihren Kindern habe ich mich äußerlich nicht besonders unterschieden. Für mich gab es allerdings einen wesentlichen Unterschied: Manche hatten ein Auto, andere nicht. Wir gehörten zu den anderen.
    Heute weiß ich, dass der Satz »Wir haben kein Geld« das ganze Leben und Denken bestimmen kann. Denn letztendlich geht es dabei gar nicht nur um Geld, sondern um Identität und Selbstbewusstsein. Beides geben Eltern an ihre Kinder weiter.
    *
    Ich sehne mich nach Stabilität, finanzieller Sicherheit, klar umrissenen Perspektiven – zumindest für eine Weile hätte ich all das gern. Doch je näher ich der Zukunft kommen möchte, desto mehr verschwimmt sie und desto wichtiger wird meine Vergangenheit. Ich zögere noch, aber vielleicht werde ich mich endlich trauen, meinen Weg zu finden, wenn ich verstehe, woher ich komme und was es für mich bedeutet. Deswegen habe ich angefangen, über meine Familie zu schreiben.
    Ich möchte unsere Geschichte von einem Leben mit Transferleistungen erzählen. Ich kann und will nicht für alle »Hartzer« oder ihre Kinder sprechen, ich kann nur das aufschreiben, was ich selbst erlebt und erfahren habe; wie es war, mit Eltern aufzuwachsen, die in dieser Gesellschaft als Außenseiter betrachtet werden. Ich glaube, dass es höchste Zeit ist, über eine Normalität zu sprechen, die gern an den Rand der Gesellschaft verbannt wird, obgleich sie für viele schon lange Realität ist und längst die
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