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Nibelungen 02 - Das Drachenlied

Titel: Nibelungen 02 - Das Drachenlied
Autoren: Alexander (Kai Meyer) Nix
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und zog sich wieder zurück. Wenig später wurde eine Seilschlaufe herabgelassen, abermals beschwert mit einem Stein. Alberich bekam sie zu fassen, fragte sich verzweifelt, auf was er sich da einließ, und schlang sich den Strick um den Leib. Er zog und zerrte, bis die Schlaufe fest um seine Brust und Achseln lag.
    Dann stieß er sich mit geschlossenen Augen von der Felswand ab und raste hinaus in den Abgrund.
     

     
    Das blutrote Licht des Morgens verblaßte, als das Moosfräulein den ersten Schritt ins Innere des Drachen tat. Fremde Gerüche umwogten sie. Ihre Haut verfärbte sich unkontrolliert in rasender Folge, mal braun, mal grün, mal schwarz, dann wieder alle Farben zugleich, ohne daß sie selbst einen Einfluß darauf hatte. Rote Muster zuckten über ihre Glieder, vermischt mit Gelb und Blau und Weiß – Farben, die ihr früher fremd gewesen waren. Seltsame Linien und Zeichen erschienen, manche wie Runen, andere wie die Kritzelei eines Kindes. Etwas geschah mit ihr, mit ihrem Körper, und schließlich begriff sie, was es war.
    Sie erblühte.
    Die gelben und roten Schlieren und Punkte waren wie Knospen auf ihrem Leib, als sei der Weg des Heranreifens abgeschlossen und zeige nun stolz seine Früchte.
    Ein seltsames Gefühl ergriff von ihr Besitz. Zum ersten Mal glaubte sie sich selbst als vollendetes Wesen zu begreifen, nicht als Anschein von etwas, das sie nicht war. Nicht als Mensch, der sich durch Krankheit von allen übrigen unterschied und sich schamvoll vor ihnen versteckte, sondern als ein Geschöpf aus gestaltgewordenem Zauber. Sie wollte nie wieder etwas anderes sein.
    Blind tastete sich das blühende Moosfräulein durch den Tunnel im Leib des Drachen, fühlte mit der einen Hand über Wände aus versteinerten Muskeln und Eingeweiden, hielt mit der anderen den Eimer voller Blut. Von weit, weit hinten rief ihr der Geweihte etwas zu, doch es war längst unwichtig geworden. Seine Worte, seine Gesten – ohne Bedeutung. Alles, was zählte, war ihre Dankbarkeit, ihre Ehrfurcht vor dem Drachen für das, was er ihr schenkte. Er hatte es verdient, zu leben; und es war nur recht, daß sie diejenige war, die seine Auferstehung vollbrachte. Ein Akt des gegenseitigen Gebens stand kurz vor der Vollendung.
    Der Drache war eine Kreatur wie sie selbst, der schwindende Schatten eines vergangenen Zeitalters. Vielleicht war es ja das, was ihnen allen bevorstand, ihr selbst, Alberich und dem Geweihten: das Verblassen im Morgengrauen einer neuen Zeit. Sie waren die letzten Rätsel einer Nacht, in der Geheimnis und Dunkel regiert hatten, und die Dämmerung drohte sie ein für allemal zu vertreiben.
    Der Tunnel erstreckte sich länger und länger, schlängelte sich um blasigen Hüllen, die zu Stein erstarrte Organe sein mochten, kalt wie Kuppeln aus Eis. Geist hatte das Gefühl, sich längst nicht mehr im Inneren des Drachen zu befinden, denn obgleich er groß und massig war, so war dieser Stollen doch viel zu lang, um in dem Kadaver Platz zu finden. Die Rippensäulen am Eingang waren ein Tor zum gestaltgewordenen Dilemma ihrer Art. Geists Eintreten in den Leichnam war gleichzeitig ihr Einlaß in eine andere Welt. Sie tastete sich nicht durch den Drachen, sondern durch das, für was er stand, und in seinem Zentrum lag das Herz seiner Magie, das nur von einer wie ihr aus seiner Starre erweckt werden konnte.
    Sie spürte, daß ihr Ziel nicht mehr fern war, irgendwo vor ihr in der Schwärze. Die Finsternis erfüllte sie mit einem Gefühl von Vertrautheit, denn es war die Finsternis des Mutterleibs, der sie geboren, nein, geschaffen hatte.
    Und dann lag das Herz vor ihr, ohne Form, ohne Körper, nur Erinnerung und Wärme. Geist versprühte das Drachenblut in die Dunkelheit, längst in der Gewißheit, daß es ein leerer, bedeutungsloser Akt war. War es nicht vielmehr ihre Anwesenheit, die den Zauber zu neuem Leben erweckte? Wieder dachte sie an den Vorgang der Befruchtung, und sie verstand, daß alles, was sie tat, damit im Einklang stand. Der Geweihte hatte nichts begriffen. Instinktiv hatte er bestimmte Dinge erkannt, etwa den Eintritt in den Drachen und was er verursachen würde, doch seine Mittel waren sinnlos. Das Blut, die Hörner – sie waren nur Wegweiser wie das Drachenlied selbst, die Melodie, die sie hierhergeführt hatte. Am Ende aber waren sie unwichtig.
    Vor ihren Augen löste sich auch das letzte Rätsel, das sie mehr als alle anderen beschäftigt hatte: Warum hatte der Drache dem Xantener, nachdem dieser ihn
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