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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition)
Autoren: Ingo Schulze
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beginnen.
    Wort für Wort tastete er sich durch den ersten Satz. Er mühte sich, hervor aber quollen bloß Laute, Laute jenseits des Menschlichen, ein Geleiere, das zum Kichern, Lachen und Prusten reizte.Titus erschrak. Sie lachten über ihn. Nur Joachim und Petersen fixierten ihn finster. Er würgte an jeder Silbe, seine Zunge vollbrachte Kunststücke, die Stimmbänder jedoch blieben unbeherrschbar. Wieder Lachen. Erst jetzt bildete sich langsam der erste Satz.
    Petersen brüllte. Titus begriff nicht, warum. Nicht er, die Klasse lachte! Was konnte denn er dafür?
    Die Klasse schwieg wie erstarrt, Joachim kippelte. Petersen stand vor Titus, und Titus konnte sehen, wie Petersens Worte dessen Mund verzerrten.
    Aus der Ferne, wie das Glockengeläut, das gerade einsetzte, erreichte Titus eine Ahnung, die, je deutlicher sie wurde, seine Züge entspannte, bis sich ein Lächeln auf seinem Gesicht abzeichnete, ein ganz feines Lächeln. Allmählich verstand Titus, warum Petersen so wütete. Und mit dieser Erkenntnis kam noch eine andere, eine, die er nicht zu benennen wußte, die hell war und licht und die schwarzen Schatten von seiner Seele vertrieb.
    Petersen redete weiter. Sein Speichel traf ihn am Kinn. Titus nahm die Arme auf den Rücken. Sein Körper war leicht und gespannt, von keiner Anstrengung zu erschöpfen. Er würde singen, er würde zusammen mit dem Maestro Sanddorn singen. Und er würde Gunda Lapin Modell sitzen, ihr zuhören, ihr erzählen.
    Titus sah die windschiefen Wolken, ein weißliches Gelb und dunkles Blaugrau. Bei der Vorstellung, daß ihm die Knie gezittert hatten, lachte er auf. Er würde Bernadette von seinen zitternden Knien erzählen, um sie aufzuheitern. Und in der Art, wie er über sich selbst sprach und lachte, würde auch sie verstehen, was er eben verstanden hatte.
    Titus legte die drei Blätter übereinander, faltete sie sorgfältig zusammen und begab sich, wie von Petersen gefordert, zurück auf seinen Platz.

LETZTE ÜBUNG
    Mitternacht war schon lange vorbei, aber der Gefreite Türmer konnte nicht schlafen. Auf das Lenkrad gestützt, fixierte er den Thermostat seines SPW s. Der Zeiger näherte sich dem roten Feld. Der Gefreite Türmer fragte sich, ob er den Mut aufbringen würde, ein Partisan, ein Agent, ein konsequenter Kriegsgegner zu sein und die Motoren des SPW s so heiß laufen zu lassen, daß sich die Kolben festfräßen. Doch jedesmal wenn der Zeiger das rote Feld überquerte, hatte der Gefreite Türmer die Kurbel betätigt und die Jalousien über den Motoren geöffnet. Und jedesmal war die Temperatur sofort gesunken und der Zeiger in die Senkrechte zurückgekehrt.
    In den ersten Wochen nach seiner Einberufung hatte sich der Gefreite Türmer, der damals noch Soldat gewesen war, Vorwürfe gemacht, weil er das Soldatendasein gar nicht so schlecht gefunden hatte. Er hatte nichts auszustehen gehabt. Und sobald er im SPW am Lenkrad saß, war er froh gewesen. Fahren machte ihm Spaß. Und er liebte sein Gefährt, sein Nilpferd, mit dem ihm kein Weg zu steil oder zu sandig war und in dem er sogar über die Elbe schwimmen konnte.
    Der Gefreite Türmer fand keinen Schlaf. Seine Hände lagen gefaltet im Schoß, sein rechter Fuß, vor dem Gaspedal auf die Ferse gestellt, war nach rechts gedreht, das linke Bein angezogen, alles wie immer, wenn er wartete. Die meiste Zeit seines anderthalbjährigen Grundwehrdienstes hatte er gewartet. Aber diese Nacht war seine letzte im Feldlager. Morgen würden sie zurück ins Regiment fahren – sozusagen nach Hause –, und dann wärenes keine zwei Wochen mehr bis zur Entlassung. Ihn selbst überraschte die Wehmut nicht, die er bei diesem Gedanken empfand. Er hätte sich gern unterhalten. Er liebte es, mit den anderen Fahrern zusammenzustehen, zu rauchen und zu reden, während die Gruppen über den Acker rennen mußten.
    Der Gefreite Türmer reckte sich. Die Lehne seines Sitzes hatte links eine Mulde. Andere Fahrer nannten das einen »Krüppelsitz«. Der Gefreite Türmer aber hatte den Fahrersitz bequem gefunden und die Mulde im Laufe seiner Dienstzeit weiter vertieft. Die Lehne war zu seiner Lehne geworden, wie auch die Fahrerhaube zu seiner Fahrerhaube geworden war. Überhaupt fühlte er sich im SPW wohl.
    Der Gefreite Türmer hörte das Atmen seiner Gruppe, die wie eine Großfamilie auf den Abdeckblechen lag oder schräg auf der vorderen Bank oder auf dem Boden, unter dem Sitz des Richtschützen. Auf dem Sitz neben dem Gefreiten Türmer schlief
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