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Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Titel: Neubeginn in der Rothschildallee - Roman
Autoren: Stefanie Zweig
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hat, was bei den Juden ein Gewohnheitsrecht ist. Mutter war stinkwütend. ›An einem Dankeschön ist noch keiner erstickt‹, hat sie gesagt.«
    »Recht hat sie gehabt«, nickte Betsy. »Aber was ist heute noch selbstverständlich? Wahrhaftig nicht, dass ich mit euch in unserem alten Esszimmer sitze und in den Wintergarten starre und mir von der guten Märchenfee einreden lasse, ich wäre nie weg gewesen. Das Herz der Betsy Sternberg klopft, rast, spuckt und jubelt. Sie kommt sich vor, als wäre sie fünfzehn und bildschön und hätte gerade den Prinzen von Arkadien kennengelernt. Ist das nun Glück oder Gedächtnisschwäche? Oder Senilität?«
    »Bei dir wahrhaftig nicht«, sagte Fritz.
    »Ich weiß nicht. Ich sehe mich oft als debile alte Frau, die ihr Leben nicht mehr ganz im Griff hat. Manchmal habe ich Angst, ich werde vergessen, worauf ich warte.«
    »Das wiederum hat nichts mit dem Alter zu tun, meine Liebe. Glaubst du, ich weiß immer, wer ich bin? Was ich weiß, ist, dass es derzeit mein ganz großer Wunsch ist, Erwin wiederzusehen. Er war mir immer mehr als nur Schwager. Dank Hitler haben wir uns eine viel zu kurze Zeit gekannt.«
    Der Wintergarten war Betsys Lieblingsraum gewesen. Als junge Frau hatte sie dort auf der Recamiere gesessen und Thomas Manns »Buddenbrooks« gelesen. Das Buch war gerade herausgekommen und sowohl bei Betsys literaturbesessenen Kränzchenschwestern im Gespräch als auch bei den vielen Abendeinladungen, die den ehrgeizigen Sternbergs, die gesellschaftlich nach oben strebten, so wichtig waren. An einem zierlichen Marmortischchen hatte die Frau des Hauses ihren Tee mit dem anregenden Duft von Bergamotteöl getrunken, und an besonders guten Tagen hatte sie sich den Gugelhupf mit Schokoladenguss gegönnt, die Spezialität des Café Goldschmidt im Ostend. Im Wintergarten hatte Betsy die Einkaufslisten für große Einladungen und jeden Donnerstag die für das Sabbatessen der Familie zusammengestellt. An einem Tag im Mai, im ersten Frühling ihrer Ehe, hatte sie im Hinterhof zum ersten Mal den Pirol gehört, der alle Jahre wiederkehren sollte, nachmittags hatte Johann Isidor ihr einen kobaltblauen Georgette für ein Sommerkostüm mitgebracht und gesagt, sie dürfe sich den passenden Hut und neue Schuhe kaufen. Betsy war gleich am nächsten Morgen zu ihrer Putzmacherin geeilt. In ihr Tagebuch schrieb sie: »Mir grauet vor der Götter Neid, des Lebens ungemischte Freude ward keinem Irdischen zuteil (Schiller).«
    Jahre später hatte sie bekümmert den Gummibaum angestarrt und verärgert dem Klavierspiel der Zwillinge gelauscht. Erwin und Clara, beide musikalisch und beide zu faul, um zu üben, hatten sämtliche Klavierlehrerinnen aus dem Haus getrieben, einmal gar den Klavierstimmer. Dem legten sie ein Schild »Vorsicht, explodiert bei Berührung durch Feiglinge!« unter den Deckel.
    »Ich sehe noch sein krebsrotes Gesicht«, erinnerte sich Betsy, »und seinen weit aufgerissenen Mund. Er hat unser Haus nie mehr betreten.« Sie merkte zu spät, dass sie laut gesprochen hatte, und schaute sich erschrocken um, erzählte nach kurzer Zeit aber weiter, als hätte sie das vorgehabt: »Die beiden spielten jeden Tag ›Den treuen Paladin‹ und jeden Tag falsch. Ich musste mich zurückhalten, um ihnen nicht die Noten um die Ohren zu schlagen. Ihr Vater hat immer gesagt: ›Chopins Mutter muss eine Seele von Mensch gewesen sein, um so was zu ertragen‹, und ich hab stets geantwortet ›Chopin war ja auch kein Zwilling‹.«
    Im Wintergarten hatte Johann Isidor an einem Sonntag im Herbst zwischen seinem zweiten und dem dritten Cognac seine Frau in einem Moment der Unachtsamkeit »Fritzi« genannt, und Betsy hatte sofort gewittert, dass ihr von allen respektierter, prinzipienfester, moralbewusster Ehemann seine Gattin betrog. Deshalb war sie auch nicht über die Maßen überrascht gewesen, als er drei Jahre später mit einem verschüchterten kleinen Mädchen an der Hand vor ihr stand und seinen ehelichen Fehltritt gestand. Der war acht Jahre alt und käseblass, hatte genau die Puppe im Arm, die ihr Vater der gleichaltrigen Victoria aus Paris mitgebracht hatte, und hieß Anna. Ihre Mutter war gerade gestorben. »Das war l917«, sagte Betsy. Sie fasste sich an die Stirn. »Mein Gott, schon wieder. Ich habe wieder laut gesprochen.«
    »Das ist dein gutes Recht, Betsy. Du darfst laut sprechen und schreien, die Fenster zerdeppern und die Hauswände lila anstreichen. Falls du Farbe bekommst. Du bist hier
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