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Nero Corleone

Nero Corleone

Titel: Nero Corleone
Autoren: Elke Heidenreich
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angefaucht hatte: »Ich kann euch nämlich auch so lange durch die Gegend scheuchen, dass ihr überhaupt keine Zeit mehr findet, ein Ei zu legen.« Er sträubte seinen langen weißen Schnurrbart und rupfte ausgerechnet Camilla, dem mutigsten Huhn, ein paar Federn aus, so dass die dummen Hühner mächtig Angst bekamen und klaglos mitspielten: jeden Tag ein frisches Ei für Nero. An einem Stein knackte er es auf und schlürfte es dann aus. Er schmatzte und schnurrte und kniff seine kugelrunden, giftgrünen Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Aber es entging ihm nichts. Wenn er fast fertig war, rief er jedes Mal die dumme Rosa, und sie durfte die Reste essen. Sie saß immer in einigem Abstand bewundernd in seiner Nähe und wartete demütig, bis sie dran war, und er vergaß sie nie. Es schien seine einzige gute Eigenschaft zu sein: die Sorge um die dumme Rosa. Er schützte sie, er gab ihr von seinen Beutezügen ab, er holte sie abends an den Blechteller, wenn sie mal wieder oben im Heu schlief und die Fütterung verpasste. Auch vor seiner Mutter, der Madonnina, hatte er einen gewissen Respekt — zumindest hob er nie die Pfote gegen sie.
    Aber der Hund — der hatte bei Nero gar nichts zu melden. Zwei Tage lang hatte er ihn sich aus gebührender Entfernung angesehen, hatte seine Größe eingeschätzt, die Länge und Reichweite seiner Kette studiert, über seine gefletschten Zähne nachgedacht. Am dritten Tag war er lautlos zu ihm geschlichen, der alte Hund hatte ihn nicht einmal kommen hören. Er wurde aus seinem dösigen Halbschlaf erst aufgeschreckt, als sich ihm eine kleine Pfote — die weiße! — sachte über sein linkes Auge legte.
    »Ich bin‘s«, sagte Nero, »und jetzt spar dir dein blödes Bellen. Denk mal einen Augenblick nach — merkst du was? So sieht man mit nur einem Auge.« — »Was soll das heißen«, knurrte der alte Hund und blinzelte mit seinem freien Auge auf diesen rabenschwarzen Wicht, unsicher, denn so war noch nie eine Katze mit ihm umgesprungen.
    »Das soll heißen«, sagte Nero sanft, »dass man mit einem Auge nicht mehr so viel sieht wie mit zweien. Wenn du dich also mir gegenüber mit deiner Bellerei, mit Zähnefletschen und ähnlichem Schnickschnack noch einmal groß aufspielst oder mich weckst, wenn ich gerade in der Sonne ein Nickerchen halte, dann würde ich einmal kurz so machen«, und er schob haarscharf neben dem verdeckten Auge eine seiner Krallen in das empfindliche Gesicht des alten Hundes, der laut auf jaulte, »dann wäre das Auge möglicherweise weg und du hättest, wie gesagt, nur noch eins. Das wollte ich kurz andeuten, ich freue mich, dass wir uns verstehen, buon giorno.« Und weg war er wieder.

    Die anderen Tiere hielten die Luft an. Camilla, das Huhn, seufzte: »Madonnina, was hast du uns denn da bloß ausgebrütet?«, aber die Madonnina putzte sich ihr kurzes, dreifarbiges Fell und sagte: »Erstens liebt eine Mutter alle ihre Kinder gleich, und zweitens: warum lasst ihr euch alles bieten? Mit mir macht er seine Mätzchen nicht.« Und dann sah sie ihm nach, wie er gerade auf die Küchenfensterbank sprang, um von einem Vanillepudding zu essen, der dort abkühlen sollte, und schnurrte: »Ach, und irgendwie finde ich ihn auch süß, den kleinen Racker.«
    »Süß?« gackerten die Hühner empört. »Er erpresst uns und ist patzig!« Und die Schafe sagten: »Er springt uns einfach auf den Rücken, schläft in unserem Fell und lässt sich nicht abschütteln, mäh!« Der alte Esel stöhnte: »Seit der hier ist und so viel herumwirbelt, komme ich überhaupt nicht mehr zum Nachdenken. Vor zwei Wochen hatte ich einen so wichtigen Gedanken, jetzt weiß ich nicht mal mehr, was es war, ich glaube, es ging darum, was eigentlich die Welt im Innersten zusammenhält. Alles weg, ich kann mich nicht mehr konzentrieren.« Messalina fauchte: »Seit der da ist, wird keiner hier mehr richtig satt, er nimmt sich immer das meiste vom Teller.« Und der alte Hofhund blaffte: »Wenn ich den Satan mal erwisch, den beiß ich mitten ...« Mittendurch, wollte er sagen, aber die Bäuerin hatte einen Pantoffel nach Nero geworfen, und urplötzlich stand die fauchende, schwarze kleine Kugel vor dem Hund, der einen Hustenanfall vortäuschte, sich räusperte und seinen Satz ein bisschen anders beendete, vorsichtshalber: »Ah, mitten im Winter hab ich doch so ein Kratzen im Hals!«

S o gingen die Wochen ins Land, und dann kam Silvester. Auf dem Hügel oberhalb des Bauernhofes lag ein kleines Ferienhaus,
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