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Nephilim

Nephilim

Titel: Nephilim
Autoren: Gesa Schwartz
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Seil geraten ist, vergisst irgendwann sogar, in welche Richtung man sich bisher fortbewegte, und dann fängt man an, das Seil selbst nicht mehr zu spüren. Dann ist da nur noch Dunkelheit.«
    Nando spürte sein Herz in seiner Kehle, er wusste, dass er im Mohnfeld hockte und nicht fallen konnte, und doch fuhr er zusammen, als plötzlich der Wind nach ihm griff und ihn schwanken ließ. Er zwang Yrphramars Gesicht vor sein inneres Auge zurück, er saß wieder bei ihm in der Gasse, und er sah ihn lächeln, leise und verschmitzt.
    »Doch dann«, fuhr Yrphramar in seinen Gedanken fort, »dann holt man Atem. Tief, so tief, wie man nur kann. Man drängt die Geräusche fort, die von außen durch die Dunkelheit kommen, drängt den Wind zurück, das Knarzen des Seils, sogar die eigenen zitternden Knie. Stattdessen hört man auf das, was noch weiter innen liegt, in der tieferen Nacht des eigenen Selbst. Man stürzt sich hinein, das Herz geht schnell, immer schneller, und plötzlich hört man Musik – Musik, Nando, die man nur manchmal und auch dann nur unter ganz besonderen Umständen in der äußeren Welt zustande bringt. Sie durchdringt alles. Sie flüstert, sie schreit, sie erzählt. Und sie erhellt die Dunkelheit. Erstaunt und geblendet fährt man zurück und sieht, dass man auf einem Seil steht, einem Seil, dessen Anfang sich im Nirgendwo verliert – und dessen Ende man in den eigenen Händen über dem Abgrund hält.«
    Nando holte Atem, langsam sank Yrphramars Bild in die Dämmerung seiner Gedanken, doch das Lächeln seines Freundes trug ihn sanft auf das Mohnfeld zurück.
    Kaya sah noch immer zu ihm auf. »Es ist dein Weg«, sagte sie kaum hörbar. »Niemand außer dir kann ihn gehen. Doch wenn Yrphramar nicht mehr wusste, wohin er sich wenden sollte, wenn die Dunkelheit ihn ängstigte, wenn er allein war, ganz allein auf der Welt – dann hat er gespielt.«
    Noch einmal sah Kaya ihn an, ein Wärmeschauer glitt über sein Gesicht und ließ ihn lächeln. Dann zog sie sich in die Geige zurück.
    Für einen Moment saß Nando regungslos. Ein grausamer Schwindel pochte hinter seiner Stirn, und als er kurz die Augen schloss, spürte er das Drahtseil unter seinen Füßen. Er wusste um den Abgrund, der unter ihm lag. Das Seil knarzte, und kaum dass er schwankte, loderte die Dunkelheit um ihn herum auf. Er spürte die Furcht vor dem Abgrund in seinen Schläfen pulsen. Lange war er vor ihm geflohen, lange hatte er ihn gefürchtet. Er sog die Luft ein, langsam und fließend, und griff nach seiner Geige. Nun war es an der Zeit, dem ein Ende zu setzen.
    Er legte den Kopf in den Nacken, und mit geschlossenen Augen stürzte er in seine eigene Finsternis. Für einen Moment überkamen ihn Lähmung und Zerrissenheit, als er nicht wusste, ob er flog oder fiel, doch er drängte jede Furcht beiseite und konzentrierte sich mit aller Kraft auf seine Musik. Ihre Klänge ließen ihn tiefer gleiten, sie umhüllten ihn wie wehende Tücher, und schließlich landete er in einem dunklen Raum auf steinernem Grund. Wenige Schritte von ihm entfernt lag etwas auf dem Boden und spendete ein diffuses Licht. Nando ging darauf zu und erkannte, dass es ein Spiegel war, ein großer Handspiegel mit verschnörkeltem Griff. Kaum dass er ihn aufgehoben hatte, strichen weiße Flammen über die Spiegelfläche, die gleich darauf sein Gesicht zeigte.
    Nando wollte sich gerade abwenden, als ein goldener Schimmer über die Haare seines Spiegelbildes zog. Er riss die Augen auf – doch die Augen seines Gegenübers blieben reglos. Nur ihre Farbe veränderte sich zu einem matten Gold, und als Nando erschrocken zurückwich, glitt ein Lächeln über das Gesicht seines Spiegelbildes, und ein Wort drang über seine Lippen, das durch Nandos Gedanken flüsterte: Teufelssohn!
    Erschrocken ließ Nando den Spiegel fallen, der, noch ehe er am Boden aufschlug, in glitzernde Scherben zerbrach. Säuselnd erhoben sie sich in die Luft, Nando hörte, dass seine Musik leiser wurde, doch sein Blick hing unverwandt an den Scherben, denn aus jeder einzelnen von ihnen lachte ihm sein Spiegelbild zu. Es war ein Scherbenlachen, das andere Bilder heraufbeschwor: Nando, der über brennende Menschenstädte flog, das Schwert mit Triumphgebrüll erhoben. Nando auf Feldern aus Asche, Nando in dunklen Sälen, umtost von Schatten und Eis – und Nando auf dem Thron des Teufels, das goldene Haar lodernd wie Feuer, das Zepter der Flammen in der Hand. Wie auf einen lautlosen Befehl hin wandten alle
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