NAM-Tech: Maschinenbrut (German Edition)

EEG-Verstärkerschicht der Werbewand erfasst die neue Hirnfrequenz, berechnet den Durchschnitt und passt ihr rhythmisches Brummen an. Eine inkrementelle Klangwelle flutet das Terminal. TMS-Werbung.
    Niemand entkommt der Frequenzgleichschaltung. Auf einem silbernen Strand aus sanftem Schaum wiegen weiche Wellen den einsamen Körper in schläfrige Trance. Elektrobass. Warme Stimme.
    Kindergarten.
    »Erinnern Sie sich an
Ihre
Zeit?«
    Klong. Klong. Klong.
    »Die Welt war voller Möglichkeiten. Die Sterne zum Greifen nah.«
    Ein Junge, ein Mädchen. Glitzernde Drähte. Schwere Geräte. Helles Kinderlachen erzeugt die Bilder selbst auf der schwarzen Leinwand seiner geschlossenen Augen. Niemand entkommt. Aber wer will schon dem Paradies entkommen?
    »Heute sind wir einen Schritt weiter.«
    Sanfte Musik. Leichtfüßige Glöckchen. Technik fast unsichtbar.
    »Reine Stimulation, keine Implantate! Damit ihre Kinder es noch besser haben.«
    Bass aus. Vertrauensvolle Stimme. Jingle und Logo.
    »TMS. Wir waren von Anfang an dabei.«
    TMS. Transkranielle Magnetstimulation. Das Prinzip basiert auf elektromagnetischer Induktion zur Stimulation des menschlichen Gehirns. Eine der wenigen, nicht-invasiven Technologien, die nach langer Forschungsphase vor vielen Jahren den Durchbruch geschafft haben und in das alltägliche Leben eingedrungen sind. Nach den primitiven Induktionskäfigen von d'Arsonval und den schmerzlosen Experimenten von Anthony Barker war es Tiberius Sorrce, der die Vision verwirklicht hatte, die Kondensatoren zu koordinieren und die Induktionsfolge nach Fahrplan ablaufen zu lassen.
    Stimulation des motorischen Kortex. Muskelzucken. In mühsamer Kleinarbeit hatte Sorrce das Programm verfeinert und Bewegungsabläufe erschaffen. Gut genug, um Labormäuse springen zu lassen. Gut genug, um Makake-Affen tanzen zu lassen. Irgendwann so gut, dass die wiederholte Anwendung endlich allen den Lerneffekt verdeutlichen konnte. Volle Ausstattung für Haushalte und Kindergärten.
    Lasst sie am Faden tanzen, bis sie von selber laufen können
, denkt Sol. Doch den Erfolg von TMS kann er nicht leugnen. Und die stille Bewunderung, die er dafür gehabt hat, seit er zum ersten Mal davon gehört hatte, ließ sich nicht vollständig verdrängen. Die einzige Frage ist ...
    Warum wird Sorrce mit keinem Wort erwähnt? Jeder weiß, dass hinter dieser großen Technologie ein großer Kopf steckt. Wodurch ist er in Ungnade gefallen, so dass sie ihn verjagt haben? TMS war seine Schöpfung.
    Etwas schläfrig lässt er die Eierschale zurückkippen. 20 Grad Neigung. Vor wenigen Jahren noch war er stolz darauf gewesen, Sorrce in gewisser Weise als Kollegen bezeichnen zu können. Damals, als er dem Ganzen noch etwas abgewinnen konnte, hatte er immer gehofft dem TMS-Vater einmal zu begegnen.
    Und so trifft man sich nun
, denkt er mit schwacher Begeisterung.
    Tiberius M. Sorrce war bei NAM-Tech vorstellig und mit offenen Armen aufgenommen worden. Etwas leichtfertig, wie sich nun herausstellte. Man hatte ihn zum Marie Jouvance Outpost geschickt, der alpinen Basis, und ihm die Leitung gegeben ... und nun war er auch hier zum Problem geworden, denn der organisierte Streik, das hatte Boss Nathan klar und deutlich gesagt, ging eindeutig auf seine Rechnung.
    Knopfdruck. Schallblock. Die Umgebungsgeräusche werden eingelesen – Wellenlänge, Frequenz – und ihre Phase wird auf den Eintrittspunkt in die Eierschale vorausberechnet. Das Ei reagiert mit destruktiver Interferenz. Simpel, aber exakt.
    Im schalltoten Innern stellt Sol sich erneut die Frage. Die alte Frage.
    Warum weitermachen? Wird's nicht langsam Zeit, um auszusteigen?
    Er hat den schweren Verdacht, dass eine der Damen etwas damit zu tun haben könnte, aber die versteckten Gedankengänge seines Bewusstseins halten sich vorsichtig im Dunkeln und scheuen sich, ihm seine Gefühle klar darzulegen.
    Sie sind aus einer anderen Welt
, versucht er sich klarzumachen.
Es reicht schon ein Jahr Unterschied und das ältere Kind versteht nicht, was in dem jüngeren Kind vorgeht. Heute schlimmer als früher. Die radikalste Änderung der letzten Jahrzehnte ist die Lebensgeschwindigkeit. 2060 wächst du mit klobigen TMS-Helmen auf, 2061 sind es hauchdünne Folien, die sich in eine Kappe einarbeiten lassen. Gleicher Effekt, nur um Faktor 100 besser. Die 2060er schlagen sich mit dem Fluch grober Technik, die 2061er haben's
leicht. Und die 2062er überholen sie trotzdem, weil die Lernprogramme effizienter geworden sind