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Nachtzug

Titel: Nachtzug
Autoren: Barbara Wood , Gareth Wootton
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doch bitte Platz.« Sukow zog einen Stuhl unter seinem Schreibtisch vor und faltete die Hände. »Wie kann ich Ihnen helfen?«
    »Es fällt mir etwas schwer, es zu sagen, Herr Doktor. Einen Augenblick, bitte.« Sie sprach mit leichtem Akzent. »Darf ich das hier ablegen?« Sie wies auf ihre Handtasche und eine zusammengefaltete Zeitung.
    »Selbstverständlich.«
    Sie legte die Handtasche und die Zeitung auf den Tischrand. Als sie die Hand zurückzog, faltete sich die Zeitung auf, und das Titelblatt kam zum Vorschein. »Ich bin mir nicht sicher, ob Sie mir überhaupt helfen können, Dr. Sukow«, sprach sie ruhig und blickte ihn dabei an. »Mein Problem ist etwas ungewöhnlich, und ich bin schon bei so vielen Ärzten gewesen.«
    John Sukow nickte. Diese Art von Einleitung kannte er von unzähligen Patienten. »Ich werde sehen, was ich für Sie tun kann. Sprechen Sie nur weiter.« Bei diesen Worten schweifte sein Blick zu der Zeitung, an der ihm plötzlich etwas auffiel. Er beugte sich leicht nach vorne.
    »Man hat Sie mir empfohlen, Dr. Sukow«, fuhr sie im gleichen Tonfall fort. »Und ich weiß auch gar nicht, wo ich eigentlich beginnen soll.«
    »Ja, und was …?« Das Foto auf der Titelseite interessierte ihn. Unwillkürlich runzelte er die Stirn. »Entschuldigen Sie bitte, dürfte ich einen kurzen Blick in Ihre Zeitung werfen?«
    »Aber sicher.«
    Er griff nach der Zeitung und betrachtete das Foto ganz genau. Dann las er die Bildunterschrift: »Adrian Hartmann, ein prominenter Juwelenhändler aus Buenos Aires, wurde am frühen Morgen von unbekannten Tätern erschossen.«
    »Entschuldigen Sie bitte«, meinte Dr. Sukow. »Einen Augenblick dachte ich, daß …« Erneut richtete er seinen Blick auf die Zeitung und las genau jedes Wort des Artikels, der unter der Abbildung stand.
    {16} Der Artikel war ziemlich lang und beschrieb größtenteils die Geschäfte Hartmanns in Südamerika sowie das, was man über die mehr als zwanzig Jahre wußte, die er in Buenos Aires verbracht hatte. Der Bericht endete mit der Feststellung, daß sein Tod höchstwahrscheinlich in Zusammenhang mit den jüngsten Terroranschlägen in Argentinien gesehen werden müsse, da Hartmann weithin als Erzkonservativer bekannt gewesen sei.
    »Interessant …«, murmelte John Sukow.
    »Wie bitte?«
    Er wandte sich wieder Mrs. Dunn zu. »Oh, entschuldigen Sie bitte. Es kommt nur selten vor, daß man in New York auf ein Exemplar des
Buenos Aires Herald
stößt. Kommen Sie gerade von da unten?«
    »Nun …« Sie wählte ihre Worte mit Bedacht, »das Problem, das ich habe, hat damit zu tun … Wissen Sie …, ich suche jemanden, der …«
    John Sukow lehnte sich wieder zurück und studierte das Gesicht der Frau, die ihm gegenübersaß. Irgendwie war alles merkwürdig. Ihre Züge waren ihm ebenfalls auf unbestimmte Weise vertraut und riefen dieselben beklemmenden Erinnerungen in ihm hervor wie die Abbildung in der Zeitung. Vertraut und doch nicht …
    Während er das Bild noch einmal ganz genau betrachtete, es in sich aufnahm und jede Einzelheit von Hartmanns Gesicht analysierte, spürte er, wie er unwillkürlich erschauerte. Nein! durchfuhr es ihn panikartig. Es ist unmöglich! Nicht nach all den Jahren!
    Schließlich legte er die Zeitung wieder hin und beugte sich über den Schreibtisch. Er faltete die Hände. »Mrs. Dunn«, fragte er ohne Umschweife, »kennen wir uns?«

{19} 1
    Um sechs Uhr früh stand SS -Rottenführer Hans Keppler auf dem Bahnsteig des Bahnhofs von Oświęcim und wartete auf seinen Zug. Dem jungen Unteroffizier, der an diesem bitterkalten Morgen auf die Schneeflocken starrte, die auf dem feuchten Holz der Gleisbohlen zusammenschmolzen, wurde die Zeit allmählich zu lang. Seit fast drei Stunden befand er sich nun schon auf dem Bahnsteig und blickte durch den gleichmäßig rieselnden Schnee die Gleise entlang. Wann würden die Lichter der Lokomotive endlich auftauchen? Er lauschte gespannt auf das ersehnte Pfeifen aus der Ferne.
    Weihnachten stand vor der Tür, doch dem jungen Soldaten war nach Feiern nicht zumute. Der Gedanke an die vor ihm liegenden freien Tage bedrückte ihn genauso wie die Stimmung auf diesem tristen Bahnhof. Den einzigen Bezug zu der festlichen Zeit bildeten hier die protzigen Büschel aus Kiefernzweigen, mit denen man jede Hakenkreuzfahne behängt hatte. Die anderen Wartenden, die zum Fest verreisen wollten, schlichen stumm durch den Bahnhof; man hatte sich inzwischen daran gewöhnt, daß die Züge keinen
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