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Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Titel: Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
Autoren: Pascal Mercier
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langweiligem Grau überwölbt, so kenne ich keine Gewißheit, die größer sein könnte als diese: daß alles menschliche Tun nur höchst unvollkommener, geradezu lächerlich hilfloser Ausdruck eines verborgenen inneren Lebens von ungeahnter Tiefe ist, das an die Oberfläche drängt, ohne sie jemals auch nur im entferntesten erreichen zu können.
    Und zu dieser sonderbaren, beunruhigenden Unzuverlässigkeit meines Urteils kommt noch eine Erfahrung hinzu, die, seitdem ich sie kennengelernt habe, mein Leben stets von neuem in eine verstörende Unsicherheit taucht: daß ich in dieser Sache, über die hinaus es für uns Menschen eigentlich nichts Wichtigeres geben kann, genauso schwanke, wenn es um mich selbst geht. Wenn ich nämlich vor meinem Lieblingscafé sitze, mich von der Sonne bescheinen lasse und dem glockenhellen Lachen der vorbeigehenden Senhoras lausche, so kommt es mir vor, als sei meine gesamte innere Welt bis in den hintersten Winkel hinein ausgefüllt und mir durch und durch bekannt, weil sie sich in diesen angenehmen Empfindungen erschöpft. Schiebt sich dann jedoch eine entzaubernde, ernüchternde Wolkendecke vor die Sonne, so bin ich mit einem Schlag sicher, daß es in mir verborgene Tiefen und Untiefen gibt, aus denen heraus noch ungeahnte Dinge hervorbrechen und mich mit sich fortreißen könnten. Dann zahle ich schnell und suche mir hastig eine Zerstreuung in der Hoffnung, die Sonne möge bald von neuem hervorbrechen und der beruhigenden Oberflächlichkeit zu ihrem Recht verhelfen.
     
    Gregorius schlug das Bild von Amadeu de Prado auf und lehnte das Buch gegen die Tischlampe. Satz für Satz las er den übersetzten Text in den kühnen, melancholischen Blick hinein. Ein einziges Mal nur hatte er etwas Ähnliches getan: als er als Student Marc Aurels Selbstbetrachtungen gelesen hatte. Auf dem Tisch hatte eine Gipsbüste des Kaisers gestanden, und wenn er an dem Text arbeitete, war es gewesen, als tue er es im Schutze seiner stummen Anwesenheit. Doch zwischen damals und jetzt gab es einen Unterschied, den Gregorius immer deutlicher spürte, je weiter die Nacht fortschritt, ohne daß er ihn hätte in Worte fassen können. Nur das eine wußte er, als es auf zwei Uhr ging: Der Portugiese verlieh ihm mit der Schärfe seiner Wahrnehmung eine Wachheit und Genauigkeit des Empfindens, wie es nicht einmal der weise Kaiser vermocht hatte, dessen Reflexionen er verschlungen hatte, als seien sie direkt an ihn gerichtet. Inzwischen nämlich hatte Gregorius eine weitere Aufzeichnung übersetzt:
     
    PALAVRAS NUM SILÍNCIO DE OURO. WORTE IN GOLDENER STILLE . Wenn ich Zeitung lese, Radio höre oder im Café darauf achte, was die Leute sagen, empfinde ich immer öfter Überdruß, ja Ekel ob der immer gleichen Worte, die geschrieben und gesprochen werden – ob der immer gleichen Wendungen, Floskeln und Metaphern. Und am schlimmsten ist es, wenn ich mir selbst zuhöre und feststellen muß, daß auch ich die ewig gleichen Dinge sage. Sie sind so schrecklich verbraucht und verwohnt, diese Worte, abgenutzt von millionenfacher Verwendung. Haben sie überhaupt noch eine Bedeutung? Natürlich, der Austausch der Wörter funktioniert, die Leute handeln danach, sie lachen und weinen, sie gehen nach links oder rechts, der Kellner bringt den Kaffee oder Tee. Doch das ist es nicht, was ich fragen will. Die Frage ist: Sind sie noch Ausdruck von Gedanken ? Oder nur wirkungsvolle Lautgebilde, welche die Menschen dahin und dorthin treiben, weil die eingravierten Spuren des Geplappers unablässig aufleuchten?
    Es kommt vor, daß ich dann an den Strand gehe und den Kopf weit hinaus in den Wind halte, den ich mir eisig wünschen würde, kälter, als wir ihn hierzulande kennen: Er möge all die abgegriffenen Worte, all die faden Sprechgewohnheiten aus mir hinausblasen, so daß ich zurückkommen könnte mit gereinigtem Geist, gereinigt von der Schlacke des immer gleichen Geredes. Doch bei der ersten Gelegenheit, wo ich etwas sagen muß, ist alles wie vorher. Die Reinigung, nach der ich mich sehne, ist nichts, was von selbst geht. Ich muß etwas tun , und ich muß es mit Worten tun. Aber was? Es ist nicht, daß ich aus meiner Sprache austreten und in eine andere eintreten möchte. Nein, es geht nicht um sprachliche Fahnenflucht. Und auch etwas anderes sage ich mir: Man kann die Sprache nicht neu erfinden. Doch was ist es dann, was ich möchte?
    Vielleicht ist es so: Ich möchte die portugiesischen Worte neu setzen . Die Sätze, die aus
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