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Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Titel: Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
Autoren: Pascal Mercier
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Melancholie. In seinem dunklen Blick mischte sich Sanftmut mit Unerschrockenheit und Unbeugsamkeit. Der Mann war ein Träumer und Dichter, dachte Gregorius, zugleich aber einer, der mit Entschiedenheit eine Waffe führen könnte oder ein Skalpell, und einer, dem man besser aus dem Weg ging, wenn seine Augen in Flammen standen, Augen, die ein Heer von schlagkräftigen Riesen auf Abstand halten konnten, Augen auch, denen nicht jeder gemeine Blick fernlag. Von der Kleidung war nur der weiße Hemdkragen mit einem Krawattenknoten zu erkennen, darüber eine Jacke, die sich Gregorius als einen Gehrock vorstellte.
    Es war beinahe ein Uhr, als Gregorius aus der Versunkenheit auftauchte, die das Portrait in ihm hervorgerufen hatte. Wiederum war der Kaffee vor ihm kalt geworden. Er wünschte, er könnte die Stimme des Portugiesen hören und sehen, wie er sich bewegte. 1975: Wenn er da Anfang dreißig gewesen war, wie es schien, so war er jetzt etwas über sechzig. Português. Gregorius rief sich die Stimme der namenlosen Portugiesin in Erinnerung und transponierte sie in Gedanken tiefer, ohne daß sie dadurch zur Stimme des Buchhändlers wurde. Es sollte eine Stimme von melancholischer Klarheit sein, die genau dem Blick von Amadeu de Prado entsprach. Er versuchte, die Sätze im Buch mit dieser Stimme zum Klingen zu bringen. Doch es ging nicht; er wußte nicht, wie die einzelnen Wörter auszusprechen waren.
    Draußen vor dem Café ging Lucien von Graffenried vorbei. Gregorius war überrascht und erleichtert zu spüren, daß er nicht zusammenzuckte. Er sah dem Jungen nach und dachte an die Bücher auf dem Lehrerpult. Er mußte warten, bis der Unterricht um zwei von neuem begonnen hatte. Dann erst konnte er in die Buchhandlung gehen, um einen portugiesischen Sprachkurs zu kaufen.

3
     
    Kaum hatte Gregorius zu Hause die erste Platte aufgelegt und die ersten portugiesischen Sätze gehört, klingelte das Telefon. Die Schule. Das Klingeln wollte nicht aufhören. Er stand neben dem Apparat und probierte Sätze aus, die er sagen könnte. Seit heute vormittag spüre ich, daß ich aus meinem Leben noch etwas anderes machen möchte. Daß ich nicht mehr euer Mundus sein will. Ich habe keine Ahnung, was das Neue sein wird. Aber es duldet keinen Aufschub, nicht den geringsten. Meine Zeit nämlich verrinnt, und es könnte sein, daß nicht mehr viel davon übrig ist. Gregorius sprach die Sätze laut vor sich hin. Sie stimmten, das wußte er, er hatte in seinem Leben wenige Sätze von Bedeutung gesagt, die so genau gestimmt hatten wie diese. Doch sie hatten einen hohlen und pathetischen Klang, wenn man sie aussprach, und es war unmöglich, sie in den Telefonhörer hinein zu sagen.
    Das Klingeln hatte aufgehört. Aber es würde stets von neuem beginnen. Sie machten sich Sorgen und würden nicht ruhen, bis sie ihn gefunden hatten; es konnte ihm ja etwas zugestoßen sein. Früher oder später würde es an der Tür klingeln. Jetzt, im Februar, wurde es immer noch früh dunkel. Er würde kein Licht machen dürfen. Mitten in der Stadt, welche die Mitte seines Lebens gebildet hatte, war er auf der Flucht und mußte sich in der Wohnung, in der er seit fünfzehn Jahren lebte, verstecken. Es war bizarr, lächerlich und hörte sich an wie eine Schmierenkomödie. Und doch war es ernst , ernster als das meiste, was er bis dahin erlebt und getan hatte. Aber es war unmöglich, es denen zu erklären, die ihn suchten. Gregorius stellte sich vor, wie er die Tür öffnete und sie hereinbat. Es war unmöglich. Ganz und gar unmöglich.
    Dreimal hintereinander hörte er die erste Platte des Kurses, und langsam bekam er eine Ahnung vom Unterschied zwischen dem Geschriebenen und dem Gesprochenen, und von all dem, was im gesprochenen Portugiesisch verschluckt wurde. Sein untrügliches, anstrengungsloses Gedächtnis für Wortgebilde trat in Kraft.
    In Abständen, die ihm immer kürzer vorkamen, klingelte das Telefon. Von der Vormieterin hatte er seinerzeit einen vorsintflutlichen Apparat übernommen und einen Anschluß ohne einen Stecker, den er jetzt hätte herausziehen können. Er hatte darauf bestanden, daß alles so blieb. Jetzt holte er eine Wolldecke, um das Klingeln zu ersticken.
    Die Stimmen, die durch den Sprachkurs führten, forderten ihn auf, Wörter und kurze Sätze nachzusprechen. Lippen und Zunge fühlten sich schwerfällig und plump an, wenn er es versuchte. Die alten Sprachen waren wie gemacht für seinen bernischen Mund, und in diesem zeitlosen
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