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Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Titel: Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
Autoren: Pascal Mercier
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Universum kam der Gedanke, daß man sich beeilen mußte, nicht vor. Die Portugiesen dagegen schienen es stets eilig zu haben, ähnlich wie die Franzosen, denen er sich deshalb von vornherein unterlegen fühlte. Florence hatte sie geliebt, diese rasende Eleganz, und wenn er die Leichtigkeit gehört hatte, mit der sie ihr gelang, war er stumm geworden.
    Doch nun war mit einemmal alles anders: Gregorius wollte das ungestüme Tempo des Sprechers und die tanzende Helligkeit der Sprecherin, die an eine Piccoloflöte erinnerte, nachahmen und ließ die immer gleichen Sätze wiederkehren, um den Abstand zwischen seiner behäbigen Aussprache und dem glitzernden Vorbild zu verkleinern. Nach einer Weile begriff er, daß er dabei war, eine große Befreiung zu erleben; die Befreiung von einer selbstauferlegten Beschränkung, von einer Langsamkeit und Schwerfälligkeit, wie sie aus seinem Namen sprach und wie sie aus den langsamen Schritten seines Vaters gesprochen hatte, wenn er im Museum bedächtig von einem Raum in den anderen gegangen war; die Befreiung von einem Bildnis seiner selbst, in dem er auch dann, wenn er nicht las, einer war, der sich kurzsichtig über verstaubte Bücher beugte; ein Bildnis, das er nicht planvoll entworfen hatte, das vielmehr langsam und unmerklich gewachsen war; das Bildnis von Mundus, das nicht nur seine eigene Handschrift trug, sondern auch die Handschrift vieler anderer, die es angenehm gefunden hatten und bequem, sich an dieser stillen, musealen Gestalt festhalten und sich bei ihr ausruhen zu können. Es kam Gregorius vor, als trete er aus diesem Bildnis heraus wie aus einem verstaubten Ölgemälde an der Wand eines vergessenen Seitenflügels im Museum. Er ging in der dämmrigen Beleuchtung der lichtlosen Wohnung auf und ab, bestellte auf Portugiesisch einen Kaffee, fragte nach einer Straße in Lissabon, erkundigte sich nach dem Beruf von jemandem und nach dem Namen, beantwortete Fragen nach dem eigenen Beruf und führte ein kurzes Gespräch über das Wetter.
    Und auf einmal begann er, mit der Portugiesin vom Vormittag zu sprechen. Er fragte sie nach dem Grund ihrer Wut auf den Briefschreiber. Você quis saltar? Wollten Sie springen? Aufgeregt hielt er sich das neue Wörterbuch und die Grammatik vor die Augen und schlug Ausdrücke und Verbformen nach, die ihm fehlten. Português . Wie anders das Wort jetzt schon klang! Hatte es bisher den Zauber eines Kleinods aus einem fernen, unzugänglichen Land besessen, so war es jetzt eher wie einer von tausend Edelsteinen in einem Palast, zu dem er soeben die Tür aufgestoßen hatte.
    An der Tür klingelte es. Auf Zehenspitzen ging Gregorius zum Plattenspieler und stellte ihn ab. Es waren junge Stimmen, Schülerstimmen, die draußen beratschlagten. Noch zweimal schnitt die grelle Klingel durch die dämmrige Stille, in der Gregorius regungslos wartete. Dann entfernten sich die Schritte im Treppenhaus.
    Die Küche war der einzige Raum, der nach hinten hinausging und eine Jalousie hatte. Gregorius ließ sie herunter und machte Licht. Er holte das Buch des adligen Portugiesen und die Sprachbücher, setzte sich an den Eßtisch und begann, den ersten Text nach der Einleitung zu übersetzen. Es war wie Latein und ganz anders als Latein, und jetzt störte es ihn kein bißchen. Es war ein schwieriger Text, und es dauerte. Methodisch und mit der Ausdauer eines Marathonläufers suchte Gregorius die Wörter heraus und durchkämmte die Verbtabellen, bis er die undurchsichtigen Verbformen enträtselt hatte. Nach wenigen Sätzen erfaßte ihn fiebrige Erregung, und er holte Papier, um die Übersetzung aufzuschreiben. Es war fast neun Uhr, als er endlich zufrieden war:
     
    PROFUNDEZAS INCERTAS. UNGEWISSE UNTIEFEN . Gibt es ein Geheimnis unter der Oberfläche menschlichen Tuns? Oder sind die Menschen ganz und gar so, wie ihre Handlungen, die offen zutage liegen, es anzeigen?
    Es ist in höchstem Grade merkwürdig, aber die Antwort wechselt in mir mit dem Licht, das auf die Stadt und den Tejo fällt. Ist es das verzaubernde Licht eines flirrenden Augusttages, das klare, scharfkantige Schatten hervorbringt, so erscheint mir der Gedanke einer verborgenen menschlichen Tiefe absonderlich und wie ein kurioses, ein bißchen auch rührendes Phantasma, einer Luftspiegelung ähnlich, wie sie sich einstellt, wenn ich zu lange auf die in jenem Licht aufblitzenden Wellen blicke. Werden Stadt und Fluß dagegen an einem trüben Januartag von einer Kuppel aus schattenlosem Licht und
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