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Nachtschicht

Nachtschicht

Titel: Nachtschicht
Autoren: Stephen King
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Beobach-tungen dann zusammentrugen, stellten sie fest, daß es ein Elefant war.
    Furcht ist die Emotion, die uns blind macht. Vor wie vielen Dingen fürchten wir uns? Wir fürchten uns, .das Licht anzu-knipsen, wenn wir nasse Hände haben. Wir fürchten uns, mit einem Messer im Toaster herumzustochern, um den angeschmorten Toast herauszubekommen, solange der Stecker noch nicht abgezogen ist. Wir fürchten uns vor dem, was der Arzt uns nach der Röntgenuntersuchung sagt; und genauso, wenn das Flugzeug plötzlich in ein Luftloch sackt.
    Wir fürchten uns davor, daß es mit dem Öl zu Ende geht, mit dem Trinkwasser, mit dem guten Leben. Wenn die Tochter versprochen hat, um elf Uhr zu Hause zu sein, und jetzt ist es Viertel nach zwölf und der Regen hämmert gegen die Fensterscheiben, sitzen wir vor dem Fernseher und tun so, als wollten wir uns unbedingt den Spätfilm ansehen, während wir immer wieder nach dem stummen Telefon schielen; und wir fühlen jene Emotion, die uns blind macht, die Emotion, die jeden vernünftigen Gedankengang ruiniert.
    Der Säugling ist ein angstfreies Wesen, bis die Mutter ihm zum ersten Mal nichts zum Saugen in den Mund schieben kann, wenn er schreit. Das Kleinkind entdeckt schnell die erschreckenden und schmerzhaften Wahrheiten einer zuschlagenden Türe, des heißen Ofens, des Fiebers, das mit den Masern und dem Keuchhusten kommt. Kinder lernen Furcht schnell; sie lernen sie aus dem Gesicht des Vaters oder der Mutter, wenn die Eltern ins Badezimmer kommen und ihre Kleinen mit Rasierklingen oder Tablettenrollen spielen sehen.
    Furcht macht uns blind, und wir nähern uns unseren Ängsten mit all der typischen Neugier des Selbstinteresses, indem wir versuchen, aus den Hunderten verschiedenen Ängsten auf das Ganze, die eine große Angst, zu schließen, genau wie die Blinden mit ihrem Elefanten.
    Wir bekommen so langsam einen Eindruck von der Gestalt der Sache. Kinder erfassen sie leicht, vergessen sie wieder, um sie als Erwachsene erneut zu lernen. Die Sache ist da, und die meisten von uns kommen früher oder später zu der Erkenntnis, womit wir es bei ihr zu tun haben: Es ist die Gestalt eines Körpers unter einem Tuch. All unsere Ängste zusammen ergeben zusammen die eine große Furcht, all unsere Ängste sind Teil dieser einen Furcht - ein Arm, ein Bein, ein Finger, ein Ohr. Wir haben Angst vor dem Körper unter dem Tuch, dieser stummen reglosen Gestalt. Es ist unser Körper. Und die große Anziehungskraft der unheimlichen Phantastik war zu allen Zeiten, daß sie uns als Probeaufführung unseres eigenen Todes dient.
    Das Genre hat sich selten besonderer literarischer Wertschätzung erfreut. Lange Zeit waren die Franzosen die einzigen Freunde von Poe und Lovecraft. Die Franzosen haben offenbar zu einem Arrangement mit dem Sex und dem Tod gefunden, zu dem sich Poes und Lovecrafts amerikanische Mitbürger nie durchringen konnten. Die Amerikaner waren zu eifrig damit beschäftigt Eisenbahnen und Flugplätze zu bauen, und Poe und Lovecraft starben gebrochen. Tolkiens Fantasy-Trilogie von Mittelerde verstaubte zwanzig Jahre in den Buchhandlun-gen, bis sie von einem Geheimtip zum Bucherfolg wurde. Und Kurt Vonnegut, dessen Bücher sich so oft mit dem Gedanken der Generalprobe des Todes beschäftigen, haben immer gegen eine wütende Kritik anzukämpfen gehabt, die sich teilweise bis zur Hysterie steigerte.
    Das mag daran liegen, daß der Horror-Autor immer schlechte Nachrichten zu melden hat: du mußt sterben, sagt er; er erzählt Ihnen, daß Sie sich nichts aus all der aufbauenden Alltagspsy-chologie in der Art von »es wird Ihnen immer wieder etwas Gutes widerfahren« machen sollen, denn es wird Ihnen auch immer etwas Schlechtes passieren, und das könnte ein Schlaganfall sein, Krebs, ein Autounfall, aber es kommt bestimmt. Und er nimmt Sie bei der Hand, öffnet Ihnen Ihre Hand, führt Sie in das Zimmer und legt Ihre Hand auf die Form unter dem Tuch … und sagt Ihnen, daß Sie diese Gestalt unter dem Tuch berühren sollen … hier … und hier … und da …
    Natürlich ist das Thema der Angst und des Todes nicht exklusiv für den Horror-Autor reserviert. Eine ganze Reihe von Schriftstellern der sogenannten »Hochliteratur« haben sich mit diesen Fragen beschäftigt und auf die verschiedenste Art - von Dostojewski »Schuld und Sühne« über Edward Albees »Wer hat Angst vor Virginia Woolf« zu ROSS MacDonalds Lew-Archer-Geschichten. Die Angst ist immer ein großes Thema gewesen. Der Tod ist
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