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Nachts kommen die Fuechse

Nachts kommen die Fuechse

Titel: Nachts kommen die Fuechse
Autoren: Cees Nooteboom
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vorläufig nicht gesprochen würde. Falten um die Augen, das Haar noch immer mit dieser roten Glut, nun aber von einem Schleier überzogen, die Schrift der Zeit, und dadurch eine plötzliche Kollegialität, vielleicht sogar Gerührtheit. Mehr Liebe als damals, das wußte er sofort, und zwar eine, mit der er nichts anfangenwürde, das wußte er genauso schnell. Die Verletzbarkeit war größer geworden. Ein Holzhaus, Vorstadt einer Vorstadt, Aquarelle aus der Provinz Rudolf Steiners, Kunst, die er nie gemocht hatte, Dinge, die er früher gesagt hätte und bei denen er jetzt mit einer Leichtigkeit lügen konnte, die ihn selbst wunderte. Du lebst noch immer in einer Traumwelt, hatte er gesagt, und sie war sich treu geblieben und behauptete mehr oder weniger, Saturn habe diese nebulösen Kleckse gemacht, eine Woche höchster Ekstase, Nacht um Nacht habe sie diese Kraft gespürt, als es vorbei gewesen sei, habe sie sich so leer gefühlt wie noch nie, leer, aber glücklich. Kurz danach habe sie diese Ausstellung gesehen und verstanden, es sei ein Zeichen, daß sie ihm schreiben müsse. Aber sie hätte nie gedacht, daß er kommen würde.
    Frauendienst war das Wort, das ihm einfiel. Er war gekommen, um etwas zu Ende zu führen. Das war nicht dasselbe wie einer Sache ein Ende zu machen. Etwas war offengeblieben. Meist änderte sich das nicht mehr – etwas war passiert, Distanz war dazwischengekommen und Zeit, Verschleiß, Vergessen. Ab und an ein Gedanke, eine vage Erinnerung, das war normal, so lief das, außer, man hatte keinen Frieden damit. Etwas stand noch aus, eine Verifikation, eine Form von Abschied. Dinge mußten zu Ende geführt werden, nicht nur für einen selbst, sondern auch für den anderen, es sei denn, der hätte keinBedürfnis danach. Das hatte er also getan, in Mills Valley. Und das tat er jetzt, nach ihrem Tod, noch einmal, hier in Venedig. Schlimme Dinge? Das habe sie doch geschrieben? Ja, aber darüber wolle sie jetzt nicht sprechen. Könnten sie einen Spaziergang machen, am Meer? Das Wetter sei gut, etwas stürmisch, aber das passe ja. Oder sei er zu müde? Nein, das wolle er gern, daß der Wind durch ihn hindurchfege. Aber Schwimmen sei nicht möglich. Erstens der kalte Golfstrom, und dann auch noch die riptides , es sei phantastisch, aber gefährlich. Das stimmte. Marine County, McClure’s Beach, ein langer Weg hinunter, links und rechts Felder mit riesigen Elchen, denen man nicht zu nahe kommen dürfe. Brunftzeit, manchmal höre man sie rufen. Dann gingen sie aufeinander los mit diesen gewaltigen Geweihen. Unten herrschte die Brandung, Wasserwände, die sich auf einen zubewegten, Strandläufer, die mit ihrem Getrippel vor den Wellen ein winziges Alphabet in den Sand schrieben. Lärm wie von einer wütenden Orgel, der Ort, um eine Geschichte zu Ende zu führen, die zwanzig Jahre zuvor angefangen hat. Dann schreit man gegen den Wind. Fluch, Schicksal, das nicht zu den Farben des Landes dort paßt, nicht zu den Kinderfarben der alten Menschen, nicht zu den hellen Holzhäusern, nicht zu den Imitationen einer niederländischen Malerin aus dem anthroposophischen Zeitalter. Darum muß man zur Gewalt des Ozeans,dann wirft man die Sätze dem Wind entgegen, eine Frauenstimme gegen die Brandung, die erzählt von einem weggelaufenen Dichter, einem drogensüchtigen Kind, einer Krankheit mit einer eingebauten Uhr, aber ich habe mich damit ausgesöhnt.
    Ein bißchen viel, nicht, sagte sie später im Auto. Das war der Satz, der ihn nach Venedig begleitet hatte. Sie hatten noch ein paar Briefe gewechselt, doch seine Fragen nach ihrem Zustand hatte sie ignoriert. Planeten und Sterne seien jetzt mehr denn je ihre Begleiter, hatte sie geschrieben, sie habe das Gefühl, emporgehoben zu werden. Ein Bild habe sie für ihn bestimmt, das bekomme er, wenn es soweit sei. Und kein Mitleid, sie sei gerade vom Strand zurückgekehrt, ein unvorstellbarer Sonnenuntergang, eine lange rote Bahn direkt zu der Stelle, wo sie gestanden hätten, sie hätte ohne weiteres übers Wasser zur Sonne gehen können. Ungefähr eine Woche danach kam das Aquarell, das er bei ihr zu Hause gesehen hatte und bei sich nicht aufhängen würde. Und dazu seine Briefe der letzten Monate und die von vor zwanzig Jahren, die er jetzt ungelesen ins Wasser warf. Dafür gibt’s Mülltonnen, sagte eine Stimme hinter ihm. Er antwortete nicht und schaute den schaukelnden weißen Papierschnipseln zu, die langsam im aschigen, abendfarbenen Wasser davontrieben, bis
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