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Nachts kommen die Fuechse

Nachts kommen die Fuechse

Titel: Nachts kommen die Fuechse
Autoren: Cees Nooteboom
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Geschichte vor langer Zeit sehen mußte, wußte er selbst nicht, vielleicht einfach, weil sowohl der Maler wie die Erinnerung ihn jetzt beschäftigten, vielleicht auch, weil in diesen Gemälden etwas war, an das man nicht herankam, etwas, das mit diesen kurzen, gemeinsam verbrachten Wochen übereinstimmte. Man konnte nicht behaupten, daß sie geheimnisvoll war, diese Hexerei war purer Unsinn gewesen, doch die anwesende Abwesenheit von damals, neben ihm, ließ ihn jetzt an die hieratischen Gestalten in den Gemälden denken. Man stand davor, wollte mit aller Gewalt zu ihnen vordringen, aber es war eine Welt, zu der es keinen Zugang gab. Er hatte weder eine Ahnung, wie er seinen Essay schreiben, noch wie er mit seiner Erinnerung umgehen sollte.
    Sie hatten einen Zug genommen, damals, quer durch Griechenland nach Jugoslawien. Nichts wußte er mehr davon, abgesehen von ärmlichen Hotelzimmern und einem Kranz roter Haare auf einem Kissen. Eine Nacht in Belgrad, eine Art Biergarten, in dem erregte Männer ihnen Slibowitz spendiert und die Gläser über die Schulter auf den Kies geworfen hatten, wo sie zersplitterten. So waren sie nach Venedig gekommen. In welchem Hotel sie abgestiegen waren, wußte er auch nicht mehr, aber immerhin noch, an welcher Stelle dieses Foto entstanden war. Er drehte sich um und ging wieder zurück. Eigentlich war es undenkbar, daß Menschen einfach aus einem Leben verschwanden. Hundert parallele Leben müßte man haben. Abschied auf dem großen Bahnhof, danach verstört herumtaumeln auf der Fondamenta Santa Lucia, plötzlich wieder allein, ein Mann in einer flanierenden Menge, der erlebt hatte, wie sich jemand wieder in der Welt auflöste, ein schmaler, dünner Arm aus einem Zugfenster, dann der Zug selbst, der über den Ponte della Ferrovia entschwand, ein viereckiges Ding mit Lichtern, und dann nichts mehr. Im Jetzt vierzig Jahre später ging er in sein Hotelzimmer zurück und blätterte im Ausstellungskatalog. Unsinn natürlich, eine Verbindung mit Piero della Francesca zu sehen. Was war sie gewesen? Ein Kind der Flower-Power-Zeit, und er aus Einsamkeit nur allzu bereit, sich zu verlieben und demGeplapper über Planeten und Sterne zu lauschen, die ihrer Meinung nach in ihrer aller Leben eingriffen. Als ob sie nichts anderes zu tun hätten! Doch wenn ihre Stimme, nachts am Wasser, vor sich hin mäanderte über Saturn und Pluto, als seien es Lebewesen, die vom All aus die Fäden spannen, an denen entlang das Leben einer Siebzehnjährigen aus Mills Valley und das eines freiberuflichen Kunstjournalisten aus Amsterdam verlaufen würden, hatte er eine schwer zu bestimmende Verzauberung gespürt, die nicht durch ihre Worte ausgelöst wurde, sondern durch das Schiefergrau dieser Augen, das im Dunkel aufzuleuchten schien. Liebe war das Bedürfnis nach Liebe, soviel hatte er verstanden. Die Absichten einer Reihe unbelebter Gas- und Eiskugeln irgendwo im Universum, das war eine Geschichte, die Menschen sich selbst erzählten, um jetzt, da die anderen Märchen ungültig geworden waren, in Gottesnamen irgendwo dazuzugehören, wenn man das nicht ertrug, mußte man nicht Stop! sagen zu einer beliebigen Passantin. In seinem leeren Haus in Amsterdam hatte er dann auf die Briefe in der unästhetischen amerikanischen Beinahe-Kinderschrift gewartet, mit wieder dem halben Tierkreis am Rand und sizilianischen Zeichen zur Abwehrung des bösen Blicks, jetzt fragte er sich, was um Himmels willen er darauf geantwortet hatte. Wer als erster das Schreiben eingestellt hatte, daran erinnerte er sich nicht mehr, wohl aber an dieaufgeregte Überraschung, als gut zwanzig Jahre später plötzlich wieder ein Brief in dieser unbeholfenen Handschrift gekommen war. Sie hatte seinen Essay über Jacoba van Heemskerk in einem Katalog über spirituelle Kunst gelesen, der eine Ausstellung in San Francisco begleitete. Bei ihr sei sehr viel passiert, schrieb sie. Heirat, Scheidung, zwei Söhne, und sie male Bilder, die vielleicht Ähnlichkeit mit denen Jacoba van Heemskerks hätten. Zwei Fotos hatte sie mitgeschickt, nebulöse Flächen von der Farbe, die seiner Erinnerung nach ihre Augen hatten, grau mit leuchtenden, schwebenden Flecken, Kunst für die Wände eines Meditationszentrums. Es sei ihr nicht gut ergangen, aber der Buddhismus habe ihr sehr geholfen. Es gebe ein Kloster bei ihr in der Nähe, das ihr viel Kraft schenke, wenn sie ihre Söhne nicht hätte, wäre sie da eingetreten. Sie habe noch oft an ihn gedacht, und es müsse
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