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Nachtleben

Nachtleben

Titel: Nachtleben
Autoren: Aufbau
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wir zu übel aussahen, um neue Frauen klarzumachen, holten Flavio und ich uns Mikrowellenfraß und Bier von der Tankstelle und zockten die Nacht hindurch Autorennspiele.

|30| August 1980
    Es war noch vor sechs Uhr am Morgen, aber die warme Luft kräuselte sich schon in unsichtbaren Strudeln über dem Boden. Ich schlurfte hinter Christian Baader, den alle nur mit seinem Nachnamen ansprachen, seinem Schatten Jens und drei anderen Heimbewohnern zum Supermarkt. Baader war aus meiner Wohngruppe und einer der Rädelsführer im Kinderheim. Für seine fünfzehn Jahre war er recht groß geraten, hatte kurze, stoppelige Haare und einen Flaum über der Oberlippe, mit dem er uns Jüngere mächtig beeindruckte. Wie immer trug er auch jetzt einen Trainingsanzug mit grünroten Streifen an der Naht und Hochwasser-Hose, sodass man die Tennissocken sehen konnte, die in seinen Klettverschluss-Turnschuhen verschwanden. Am linken Handgelenk klebte ihm ein verpektes Schweißband wie ein Geschwür, am rechten trug er eine Digitaluhr, die zu jeder vollen Stunde zwei beißende Fiepser von sich gab. Eines von Baaders Spielchen bestand darin, andere Kinder herauszufordern, die eingebaute Stoppuhr schneller zu starten und zu stoppen, als er es konnte. Gelang es jemandem, was selten der Fall war, erntete man ein anerkennendes Nicken, schaffte man es nicht, bekam man drei Schläge auf den Oberarm verpasst. Wenn man dabei zuckte, gleich noch drei und ein hämisches Lachen hinterher.
    Baaders Bande bestand aus fünfzehn Jungs, die ihn im gleichen Maße bewunderten, wie sie Schiss vor ihm hatten. Dazugehören wollte man nicht, weil man mit ihm befreundet sein wollte, sondern weil man ansonsten Prügel und Schikane riskierte. Er schickte seine Leute in Supermärkte oder andere Läden, wo sie Zigaretten, Süßigkeiten oder was auch immer |31| klauten, um die Sachen anschließend in der Schule oder im Heim zu verscheuern. Die Hälfte der Kohle sackte Baader ein, den Rest teilte er unter den anderen auf.
    »Pass auf«, sagte Jens, der für gewöhnlich das Reden für Baader übernahm, seitdem der mit dem Stimmbruch zu kämpfen hatte, als wir am Supermarkt angekommen waren. »Du versteckst dich hinter den Altglascontainern da drüben und wartest. Kurz vor sechs kommt der Laster mit Lebensmitteln und dem ganzen Zeug. Das dauert vielleicht zehn Minuten, bis der Kram abgeladen ist, und bis der Chef vom Supermarkt kommt, dauert’s auch immer noch eine Weile. Bis dahin steht das alles einfach unbewacht rum. Zeit hast du genug. Das Problem sind die Leute mit den Hunden.« Damit deutete er auf einen Schotterweg, der am Supermarkt vorbei in einen Park führte. »Wir brauchen heute Himbeerjoghurt«, fuhr er fort. »Das sind normalerweise wenigstens vier Paletten aus Pappe mit jeweils sechzehn Bechern drauf. Die Paletten schnappst du dir und bringst sie zu uns. Wir verstecken uns drüben im Gebüsch. Aber nimm nicht alle vier auf einmal. Die sind zwar nicht schwer, aber die sind nicht sehr stabil.« Jens machte eine Pause und sah mich an, als habe er mir eine Rechenaufgabe erklärt. »Verstanden?«, wollte er wissen, aber ich rückte mir nur den schwarzen Cowboyhut zurecht, den ich trug.
    Seit einigen Wochen setzte ich ihn nur zum Schlafen oder wenn die Lehrer darauf bestanden ab. Er war wie eine Mischung aus Sturzhelm und Tarnkappe, unter der ich beim Aufsetzen verschwand, um anschließend ein Stück selbstsicherer wieder aufzutauchen. Gleichzeitig war er eine Art Anker. Jeder der Jungen im Heim besaß einen Gegenstand, der ihn an die Zeit davor erinnerte und den er hütete wie seinen Augapfel. Beim einen war es ein Kuscheltier, beim anderen etwas Belangloses wie ein Schlüsselanhänger, und wieder andere hatten Fotos. Meine Erinnerungsstütze war der Cowboyhut.
    »Der hat die Hose jetzt schon voll«, lachte Baader. Erst |32| als er einen Blick in die Runde warf und den anderen zu verstehen gab, dass sie ihren Einsatz verpasst hatten, stimmten sie mit ein. Weil ich nichts zu sagen wusste, sah ich ihn nur abfällig an. Sofort verzog sich sein Grinsen zu einer ärgerlichen Fratze, und er stieß mir gegen die Schulter, sodass ich einen Schritt zurückstolperte.
    »Entschuldige dich«, sagte er. Baader war zwei Köpfe größer als ich, aber sein Schubsen beeindruckte mich nicht. Ich war es gewohnt, den Hintern mit einem Kochlöffel versohlt zu bekommen oder Franz’ Schläge einzustecken.
    »Ich habe gesagt, du sollst dich entschuldigen«, wiederholte Baader im
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