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Nacht unter Tag

Nacht unter Tag

Titel: Nacht unter Tag
Autoren: Val McDermid
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Besseren. Sie waren einander vom Anfang ihrer beruflichen Laufbahn an zugetan, denn jeder akzeptierte die individualistischen Neigungen des anderen. Sie hatten zusammen die Karriereleiter erklommen, und ihre Freundschaft hatte die Herausforderung unterschiedlicher Dienstgrade überdauert. Aber er wusste, dass er bei Karen nur bis an gewisse Grenzen gehen durfte, und hatte das Gefühl, diese gerade erreicht zu haben. »Ich spring für dich ein«, bot er an.
    »Das ist mir recht«, sagte Karen, während ihre Finger über die Tasten flogen. »Vermerk meine Abwesenheit morgen früh. Ich habe das Gefühl, dass Jenny Prentice gegenüber zwei Polizisten etwas mitteilsamer sein wird als gegenüber ihrer Tochter.«

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Donnerstag, 28. Juni 2007,
Edinburgh
    D as Warten war eine der Lektionen, die Journalisten nicht in Kursen lernten. Als Bel Richmond noch einen Vollzeitjob bei einer Sonntagszeitung hatte, hatte sie immer behauptet, sie würde nicht für eine Vierzig-Stunden-Woche bezahlt, sondern für die fünf Minuten, die sie reden musste, um über eine Türschwelle zu gelangen, die für andere unüberwindlich blieb. Das hieß, viel Zeit mit Warten zu verbringen. Warten auf Rückrufe. Warten, bis der nächste Teil einer Geschichte herauskam. Warten, bis aus einem Kontakt eine Quelle wurde. Bel hatte viel gewartet, und obwohl sie immer erfahrener geworden war, hatte sie nie gelernt, gern zu warten.
    Sie musste zugeben, dass sie schon Zeit in Umgebungen verbracht hatte, die weniger zuträglich waren. Hier hatte sie Annehmlichkeiten wie Kaffee, Kekse und Zeitungen. Und der Raum, in dem man sie warten ließ, bot die wunderbare Aussicht, die eine Million von Butterkeksdosen geziert hatte. An der Princes Street gab es eine ganze Reihe von typischen Touristenzielen, das Schloss, das Denkmal für Sir Walter Scott, die Nationalgalerie und die Princes Street Gardens. Bel bemerkte auch noch andere bedeutende architektonische Augenschmankerl, aber sie kannte die Stadt noch nicht gut genug, um genau sagen zu können, um welche es sich handelte. Sie hatte die schottische Hauptstadt nur ein paarmal besucht, und es war nicht ihre Entscheidung gewesen, dieses Treffen hier abzuhalten. Sie hatte sich London gewünscht, aber durch ihre Weigerung, sich im Voraus in die Karten schauen zu lassen, hatte sie ihre Führungsrolle eingebüßt und war zur Bittstellerin geworden.
    Ganz ungewöhnlich für eine freie Journalistin, hatte sie vorübergehend einen Assistenten für Recherchen an ihrer Seite. Jonathan war Journalistikstudent an der City University und hatte seinen Tutor gebeten, ihn für sein Praktikum Bel zuzuteilen. Offenbar gefiel ihm ihr Stil gut. Sie war recht erfreut über das Kompliment, aber geradezu entzückt über die Aussicht, acht Wochen lang vom harten, langweiligen Teil der Arbeit befreit zu sein. Deshalb hatte Jonathan den ersten Kontakt mit Maclennan Grant Enterprises hergestellt. Die Nachricht, mit der er zurückkam, war eindeutig. Wenn Ms Richmond nicht bereit sei, den Grund für ihr Treffen mit Sir Broderick Maclennan Grant zu nennen, sei Sir Broderick nicht bereit, sie zu treffen. Sir Broderick gebe keine Interviews. Aber weitere Verhandlungen aus der Ferne hatten zu einem Kompromiss geführt.
    Und jetzt wurde Bel, wie sie dachte, in ihre Schranken gewiesen. Sie war gezwungen, im Besprechungszimmer eines Hotels zu warten. Und man hatte ihr zu verstehen gegeben, dass jemand so Wichtiges wie die persönliche Assistentin des Vorsitzenden und Hauptaktionärs des Unternehmens, das mit seinem Wert im Land an zwölfter Stelle stand, Dringenderes zu tun hätte, als bei irgendeiner Londoner Journalistin anzutanzen.
    Sie wäre gern aufgestanden und auf und ab gegangen, wollte sich aber ihre Gereiztheit nicht anmerken lassen. Auf ihre überlegene Position zu verzichten war ihr nie leichtgefallen. Stattdessen zog sie ihre Jacke zurecht, vergewisserte sich, dass ihre Bluse ordentlich im Rock steckte, und wischte ein Stäubchen von ihren smaragdgrünen Wildlederschuhen.
    Endlich ging genau fünfzehn Minuten nach der vereinbarten Zeit die Tür auf. Die Frau, die mit dynamischem Schwung, in Tweed und Kaschmir gehüllt, hereinkam, sah aus wie eine Lehrerin unbestimmten Alters, die daran gewöhnt war, Disziplin von ihren Schülern zu fordern. Einen verrückten Moment lang wäre Bel aus einem pawlowschen Impuls heraus, der auf ihre eigenen Teenager-Erinnerungen an böse Nonnen zurückging, fast aufgesprungen. Aber es gelang ihr, sich
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