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Nacht der Wahrheit

Nacht der Wahrheit

Titel: Nacht der Wahrheit
Autoren: Thomas Knip
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Bewegung veränderte sich der ausgestreckte Arm. Die Haut verlor an Farbe, Flecken zeigte sich auf der brüchigen Oberfläche.
    Der Hohepriester richtete seine matten Augen, die tief eingefallen in den Höhlen lagen, auf das Löwenwesen. Nayla war kraftlos zu Boden gesunken und hielt sich eine Pranke gegen die Wunde auf ihrer Brust. Mit jedem verstreichenden Augenblick verloren ihre Gesichtszüge mehr und mehr von der Fremdartigkeit. Das Antlitz des jungen Mädchens war nun wieder deutlich zu erkennen. Kurz noch hob es den Oberkörper an, dann kippte es tot zur Seite.
    Menasseb hustete. Blutiger Auswurf löste sich aus der brüchigen Haut seines aufgerissenen Hals. Er bekam kaum mehr mit, wie die Priester um ihn herum aufgesprungen waren und an ihren eigenen Körpern denselben Verfall erlebten.
    Ein Brüllen, das aus der Tiefe der Erde emporzusteigen schien, erklang aus dem steinernen Relief. Nebelfetzen lösten sich aus Naylas verdreht daliegender Gestalt. Sie sammelten sich zwischen den beiden Feuerbecken und gewannen mehr und mehr an Substanz. Krallenbewehrte Pranken formten sich aus den diffusen, verwehenden Schlieren. Der weit aufgerissene Rachen eines Löwen wurde sichtbar. Seine dolchartigen Zähne stachen aus der unauslotbaren Tiefe des Nebels deutlich hervor.
    Obwohl Menassebs Körper weiter zerfiel, spürte er, wie die Kälte der Furcht in ihm emporstieg. Glühende Augen, die aus einem inneren Feuer heraus zu brennen schienen, richteten sich auf ihn. Er wusste, er hatte versagt. Der eingefallene Leib des Hohepriesters sackte in sich zusammen. Sekhmet hatte keine lebende Trägerin erhalten. Sie war wieder  aus der Welt des Körperlichen gerissen worden.
    Menasseb schloss die Augen und formte die Lippen zu einem letzten Gebet. Er erlebte nicht mehr, wie der nebelhafte Löwenkörper auf ihn herabstieß und seinen mumifizierten Leib wie trockenes Laub zerfetzte.
    Das Wesen wütete unter den sterbenden Anwesenden. Schreie voller Furcht und Todesahnung hallten durch den Saal. Talon spürte, wie der Griff an seinem Kopf nachließ. Polternd fiel das bronzene Schwert zu Boden. Etwas hinter ihm  knirschte wie brüchiges, altes Pergament.
    Der Mann aus dem Dschungel drehte sich in seinen Fesseln so gut es ging um und konnte Nefers dunkle Augen erkennen, die sich in den bluterfüllten Höhlen panisch auf ihn richteten. Noch einmal fuhr seine rechte Hand hoch, doch in diesem Augenblick zerriss eine schattenhafte Pranke den ausgemergelten Körper.
    Talon stieß den Atem gepresst zwischen den Lippen hervor. Eine unwirkliche Stille erfüllte den Saal. Fast hypnotisiert richteten sich seine Augen auf die glühenden Pupillen, die sich aus den weißen Schlieren schälten. Der Rachen waberte wie verwehender Rauch.
    Die Augenblicke schienen zu Ewigkeiten zu werden. Nervös hob und senkte sich der Brustkorb des Mannes. Er wartete darauf, dass die Pranken jeden Moment zustießen. Doch der zerfließende massige Körper des Löwen beugte sich nur langsam über ihn.
    [Du bist keiner von ihnen] , stellte eine hohle Stimme fest, die überall und nirgends zu sein schien. [Du bist … einer … keiner – von uns …] , ergänzte die Stimme schwerfällig.
    Eine Pranke zuckte vor, und Talons Bewusstsein versank in einer tiefen Dunkelheit.

    Epilog:

    Die beiden Männer standen mit gesenkten Köpfen vor dem schlichten Steingrab. Das war das einzige, womit sie Nayla noch ehren konnten.
    Als Talon erwacht war, schien der helle Tag bereits durch das offene Dach des Tempels. Seine Fesseln waren auf unerklärliche Weise gelöst worden. Taumelnd war er auf die Beine gekommen und hatte den Weg aus dem Gebäude gesucht. Überall lagen Reste von Körpern verstreut, als ob uralte Gräber aufgebrochen worden waren, deren Leichname man nun verteilt habe.
    Talon hatte sich an Senmu, den Bruder Naylas, erinnert, und er hatte feststellen wollen, ob wenigstens dieser noch lebte. Er hatte die Tür zum Verließ mit einem schweren Pflug aufstoßen müssen, denn die Tür war von innen verschlossen, und dann den jungen Mann befreit. Er wirkte mitgenommen und stark geschwächt. Den Tod seiner Schwester nahm er fast teilnahmslos mit einem stummen Nicken auf. Gemeinsam bargen sie den toten Körper und bestatteten ihn unter diesen Umständen so gut wie möglich.
    Talon wollte dem jungen Mann zum Trost die Hand auf die Schulter legen, doch dieser wehrte sie ab.
    „Nein, es ist gut“, setzte er an. „Es ist vorbei. Ich werde jetzt nach Hause gehen und meiner
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