Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nacht

Nacht

Titel: Nacht
Autoren: Elena Melodia
Vom Netzwerk:
dass ich noch etwas sage, aber mir fehlen die Worte. Das ist einer der seltenen Fälle, in denen Selines Naivität mich sprachlos macht.
    »Das Problem ist vor allem: Er hat sie mit dem Handy gefilmt!«
    Naomi bringt es wie immer sofort auf den Punkt. In schwierigen Momenten ist ihr Sinn fürs Praktische eine Eigenschaft, die ich sehr schätze.
    »Und inzwischen hat es vermutlich die ganze Schule gesehen!«
    »Genau.«
    Agatha schweigt.
    Ich fasse es nicht. Wie kann man nur so blöd sein und in einen solchen Schlamassel geraten? Wut steigt in mir hoch, verwandelt sich dann aber nach und nach in etwas Weicheres. Ich habe Mitleid mit Seline und stelle mir vor, wie sie sich jetzt fühlt, wie verletzend und demütigend das sein muss.
    »Dafür wird er bezahlen«, bringt Agatha schließlich in beißendem Ton hervor.
    »Wie denn?«, fragt Seline unter Tränen.
    Blitze zucken in Agathas schwarzen Augen auf. »Wir werden ihn zu Tode erschrecken.«
    »Erschrecken?«
    »Genau.«
    »Wie soll das aussehen?«
    Agatha ist ruhig, intelligent und methodisch. Aber manchmal habe ich beinahe Angst davor zu erfahren, was in ihrem Kopf vorgeht.
    »Wir lauern ihm unten am Fluss auf und bringen ihm bei, wie man sich benimmt. Heute Abend. Adam wird allein sein, keine Hindernisse.«
    »Woher willst du das wissen?«
    »Ist das wichtig?«
    Ich sehe sie überrascht an. Ich kenne sie erst seit kurzem, seit sie mit ihrer Tante in die Stadt gezogen ist. Offenbar ist sie Waise und hat sonst keine Verwandten. Die vier Proben für die Taufe hat sie mit links bestanden.
    Einmal hat sie uns anvertraut, dass wir ihre Familie seien und dass sie alles tun würde, um nicht in einem Heim zu landen. Ich weiß nicht, wie ernst sie das gemeint hat, aber als ihre Familienangehörige spüre ich, dass da noch etwas Tiefgründigeres ist, etwas, das sie vor uns verborgen hält.
    Und das ist böse.

[home]
    Kapitel 3
    M eine Schule ist das Letzte.
    Übrigens glaube ich nicht, dass meine Meinung über sie sehr viel besser ausfallen würde, wenn sie sich in einem dieser Luxusbauten mitten im Grünen befände, wie man sie im Film sieht. Auch wenn sie dadurch natürlich weniger trostlos wäre.
    Ich beklage mich nicht darüber, in eine Familie von Halbversagern ohne große finanzielle Möglichkeiten hineingeboren worden zu sein. Aber ich bin überzeugt, dass mein Intellekt es verdient, an einem besseren Ort ausgebildet zu werden als in dieser weißen Schachtel, die aussieht wie eine Lagerhalle. Mit diesen grünen Linoleumböden, die von zerkauten Kippen übersät sind, und Wänden, die von den ewigen Raufereien, Schubsereien und Schmierereien schon ganz schwarz aussehen.
    Die Klassenzimmer sind groß und werden von kilometerlangen Neonröhren beleuchtet wie riesige Säle eines alten Krankenhauses, in denen jedes Wort mit der Wucht eines Schreis widerhallt und das entwaffnende Weiß der Decken einen an die Leere erinnert, die man jeden Tag in sich trägt, wenn man durch das Tor tritt. Hohe, rechteckige Fenster versuchen, ein Tageslicht hereinzulassen, das allzu oft schon draußen fehlt, während die neuen Bänke aus grauem Resopal dir sagen, dass Kunststoff eines Tages auch dich ersetzen wird.
    In der ganzen Schule gibt es keinen Platz, wo der Blick zur Ruhe kommen und man die Seele baumeln lassen kann. Es gibt keinen Platz, an dem man mal erholsam und still für sich sein kann, weil jeder Meter der langen Flure, jede Stufe der absurden Freitreppe, jede Ecke in den Toiletten von wimmelnden Körpern besetzt ist, von Kaffeeautomaten, die nie Wechselgeld geben, von verstopften Waschbecken, von Mündern, die reden, rauchen, schimpfen und dann am Ende dieses Gebäude leer und lautlos zurücklassen, wie ein großes Schiff vor dem Untergang.
     
    Was die Lehrer angeht, so gibt es unter ihnen ausreichend Material für das Drehbuch eines grotesken Films. Stellt euch einen Trupp von Marionetten vor – bekleidet von einer durchgeknallten oder einfach nur farbenblinden Designerin –, die aus dem Nichts eines Korridors in der Klasse auftauchen und im Nichts wieder verschwinden, als hätten sie außerhalb der Schule kein Leben. Marionetten, die einen vorgegebenen, immer gleichen Text herauswürgen und mich jeden Morgen zwingen, meine Rolle zu spielen.
    So geht die Hälfte meines Lebens dahin.
    Nur einen einzigen nehme ich davon aus. Den Physik- und Chemielehrer, den alle, einschließlich der Pedelle, Professor K. nennen, auch wenn niemand mehr weiß, warum. Professor K. ist ein
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher