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Nach der Hölle links (German Edition)

Nach der Hölle links (German Edition)

Titel: Nach der Hölle links (German Edition)
Autoren: Raik Thorstad
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sterben.
    »Keine halben Sachen«, wie eine Leidensgenossin in der Klinik traurig-spöttisch zu ihm gesagt hatte. Sie musste es wissen. Sie war zwanzig Jahre älter als Andreas und lebte doppelt so lange mit der Krankheit, die sie teilten.
    Seine Kehle wurde zum Nadelöhr, durch das nicht genug Sauerstoff strömte. Seine sich zu schnell hebende und senkende Brust war taub, als er die ersehnte Haltestelle erreichte. Erst die Hälfte des Wegs war geschafft.
    Als die Türen des Busses mit einem hydraulischen Zischen aufsprangen, stolperte Andreas gesenkten Kopfes auf den Bürgersteig. Er fühlte sich elend. Sein Blick glitt in der Hoffnung auf ein Wunder über das Schild der Haltestelle. Wie dankbar wäre er, wenn dort bereits der Name der U-Bahn-Station stünde, die in der Nähe seiner Wohnung lag.
    Aber noch standen ihm siebzehn endlose Minuten Fahrt in der schlecht gelüfteten U-Bahn, rund ein Kilometer Fußmarsch und nicht zuletzt das Überwinden von genau 72 Stufen bevor. Er hätte seine Seele gegeben, wenn die Wohnungstür auf mysteriöse Weise ein paar Kilometer in seine Richtung gerückt wäre.
    Ein Anflug von Panik erfasste ihn, als er die Treppe zur Bahn hinabstieg. Wieder war er versucht, den restlichen Weg zu Fuß zurückzulegen. Er wusste leider, dass er diese Ausflucht am Ende des Tages notieren musste. Und das wollte er nicht.
    Andreas’ erster Impuls war, die Angst beiseitezuschieben, wie er es früher getan hatte. In der Hoffnung, dass sie verschwinden würde, wenn er sie ignorierte. Das konnte funktionieren, war aber nicht der richtige Weg. Stattdessen musste er sich der Situation stellen, die ihm Angst machte, und mit ihr sämtlichen Reaktionen, die sie ihm entlocken mochte.
    Mühsam fasste er sich ein Herz. Seine Schultern strafften sich, als er die restlichen Stufen überwand und sich mental der Bahn stellte, die rumpelnd einfuhr.
    Du hast das schon hundert Mal getan, erinnerte er sich stumm. Steige ein, setz dich hin und lass dich nach Hause bringen.
    Trotz allen guten Zuredens war der Augenblick, in dem er den Fuß in den Innenraum der U-Bahn setzte, für ihn gleichbedeutend mit einer Injektion unbekannten Inhalts. Die Flüssigkeit, die in seine Venen strömte, konnte harmlos sein, aber genauso ein tödliches Gift enthalten. Andreas war, als würde er Russisches Roulette spielen und sich entgegen jeder Vernunft einem unnötigen Risiko aussetzen.
    Die Bahn fuhr an. Die Räder kreischten auf den Schienen. Für Andreas klang es, als würden Todesengel über ihm kreisen und sich an seiner Angst weiden. Seine Fingernägel hinterließen rote Striemen auf der empfindlichen Haut des Oberarms.
    Wenn der Zug nach oben fährt, wird es dir besser gehen, beschwor er sich und wusste, dass er nicht auf diese Weise denken durfte. Wie setzte man sich gegen etwas zur Wehr, das fast jeder Mensch in seiner Situation getan hätte? Viele Leute fühlten sich im Erdboden unwohl, und der Übergang zwischen einer verständlichen Angst und einer Phobie war manchmal kaum zu erkennen.
    Andreas zwang seinen Körper, einen Sitz anzusteuern. Er starrte aus dem Fenster ins Dunkel und wartete auf das Licht. Als es soweit war, sauste es in seinen Ohren. Das kannte er schon. Die Angst fand immer einen Weg, auf sich aufmerksam zu machen. Die Schönheit der Hamburger Fassaden in der Sonne bemerkte er kaum. Weder interessierte ihn das Treiben der Passanten noch das Frühlingserwachen der Stadt. Zu feindlich erschien sie ihm in diesem Moment.
    Der Rückweg fiel ihm an diesem Tag nicht schwerer als sonst, vielleicht sogar leichter. Trotzdem war er anstrengend, die Fahrt mit der U-Bahn endlos. Entsprechend schnell wurde Andreas, als er aus dem Waggon aussteigen und die Haltestelle hinter sich lassen konnte. Nur fort von den sich gegenseitig anrempelnden Menschen, der Frau mit dem Yorkshire Terrier, den beiden Kindern, die sich um ein Kaugummi stritten und allen, die ihm im Weg standen.
    Bis zu einem gewissen Punkt war Andreas erleichtert. Nun war es nicht mehr weit. Als er die ersten Häuser des alten Stadtteils hinter sich ließ, begann es ihm besser zu gehen. An seiner Erschöpfung änderte sich nichts, doch er fühlte sich bedeutend wohler in seiner Haut, als die Sonne seine Jacke aufheizte und er sicheren Schritts der Querstraße zustrebte, in der er zu Hause war.
    Überraschend ruhig wechselte er die Straßenseite; ohne das Bedürfnis, sich an parkenden Autos oder Häuserwänden festzuhalten. Während er über einen feuchten
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