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Mutti packt aus

Mutti packt aus

Titel: Mutti packt aus
Autoren: Lotte Kühn
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Jubeljahr wird. Denn der Erste von vieren wird im Juni Abi machen und trägt sich bereits im Januar mit dem Gedanken, spätestens im Mai mit den Prüfungsvorbereitungen zu beginnen! Seine Schwestern giggeln und gackern und schnattern am Straßenrand. Der Jüngste wedelt mit den Wunderkerzen und bewirft seine Schwestern mit Knallfröschen. Ab jetzt werde ich außer meinem eigenen al le zwei Jahre ein Abitur ablegen müssen, denke ich, und mir wird kurz schwindelig wie vor vielen Jahren, als mich die ernüchternde Erkenntnis verstörte, mit der Geburt des vierten Kindes plötzlich für die Pflege von einhundert Finger- und Fußnägeln inklusive meiner eigenen verantwortlich zu sein. Während die Rakete in den Himmel zischt, lässt’s der Große richtig krachen: »Also danach will ich nach Austra lien!« Schockschwerenot. »So weit?«, frage ich, eine Okta ve z u hoch, um wirklich zuversichtlich, unterstützend und stark rüberzukommen. »Ja klar«, beteuert er. »Ich muss mich selbst finden und das geht nur weit weg von …«, er streift uns alle mit einem kurzen Blick, räuspert sich und sagt: »Berlin.« – »Super-Idee«, versuche ich die Kurve zu kriegen und verfalle in den routiniert munteren Tonfall, mit dem ich immer wenigstens versucht habe, in jedem bösen Plan die gute Absicht zu entdecken. »Ich muss mich auch selbst finden! Ich komm mit!« Gequält stöhnt er auf. »Oh Manno, Mama!«, sagt er. »Jetzt chill doch mal. Das geht nicht!«
    Ein bisschen beleidigt bin ich schon, aber ich lasse mir nichts anmerken. Ich meine, war doch von Anfang an klar, worauf das Ganze hinausläuft: Kaum sind sie auf der Welt, wollen sie auch schon weg – und zwar alle. Hemmungslos plappern meine Mädchen später beim Bleigießen darüber, dass sie nach dem Abi sofort wegwollen. Beteuern, dass sie mir auch mal eine Karte aus Amerika schreiben würden oder mich sogar besuchen würden und zwischendurch könnten wir skypen, wenn ich endlich mal verstehen würde, wie das geht. Und wie schön das für mich werden würde, wenn sie alle weg sind und ich dann wieder so viel Zeit hätte und so viel Spaß mit meiner Arbeit haben würde. Meine Kehle fühlt sich an wie mit Stroh gepolstert. Ich werfe einen waidwunden Blick in die Runde und bin erst mal still. Da legt mein Jüngster zuerst seine Hand auf meinen grauen Scheitel, dann streichelt er meine welke Wange und flüstert in mein ertaubendes Ohr: »Lass die Blödköppe doch!« Er macht den Rücken sehr gerade und verkündet feierlich: »Ich bleibe für immer bei dir. Und wenn du 97 bist und ich 60, dann können wir doch zusammen ins Altersheim ziehen.«
    In den nächsten Wochen habe ich mich sehr zusammengerissen, Tränen heruntergeschluckt oder notfalls zu allergischem Augenschwitzen umgedeutet und nicht mehr als hundert Mal heimlich unter der Dusche geweint. Zum Geburtstag buken die Mädchen ihrem Bruder eine Torte im Umriss des fünften Kontinents, auf dem Sydney, Perth und Adelaide mit Zuckerguss und das Outback als Relief in Marzipan abgebildet war. Maßstabsgetreu und in grün, gelb und braun abgebildet wie im Atlas. Angerichtet auf blauem Papier, denn Australien ist eine Insel im Meer. Die ganze Verwandtschaft schenkte Bücher, Landkarten und Bildbände über Australien. Ich schenkte ein Kuscheltier-Känguru und ein amtliches Schreiben der Royal Flying Doctors, in dem man mir versicherte, im Fall der Attacke eines giftigen Tieres, von denen es in Australien ja deutlich mehr als Australier gibt, innerhalb einer Stunde per Hubschrauber Leben retten zu können. So viel Vorsorge muss sein!
    Ein Jahr später ist er dann tatsächlich ausgezogen. Nicht nach Australien, sondern nach Steglitz, weil er statt sich selbst ein Mädchen gefunden hatte, von dem er nicht so weit weg sein wollte. Ich habe auch das beinahe kommentarlos ertragen und streng im Ton meiner eigenen Mutter verlangt, dass er künftig sonntags zum gemeinsamen Essen erscheint, diese Veranstaltung im Übrigen für alle vier verpflichtend sei und Ausnahmen nicht geduldet würden.
    In das Zimmer des Großen ist der Kleine gezogen und hat ertrotzt, die bewegliche Habe seines Bruders bei Ikea ein zweites Mal zu kaufen, im Originalmaßstab eins zu eins wieder aufzubauen, alles nur, um meine Nerven zu schonen, sagt er. Ich musste mich also gar nicht groß umgewöhnen. Klimmzugstange, dreckige Socken, ungemachtes Bett, unterschlagene Deutscharbeiten – alles wieder da.
    Eines Sonntagnachmittags sitzen sie nach dem Essen auf
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