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Muttersoehnchen

Muttersoehnchen

Titel: Muttersoehnchen
Autoren: Silke Fink
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anders. Mein Junge musste das moderne Männchen machen. Er musste sich mit dem Schonraum begnügen, den ich ihm zugestand. Und der war übersichtlich, denn ich hatte nicht verstanden, dass nur der riskant lebt, der nichts riskiert. Maik durfte rabaukig aussehen, aber er durfte um Himmels Willen kein Rabauke werden. Meine Mutter glaubte noch an Schutzengel, die für Besoffene und kleine Kinder besonders schnell fliegen. Ich glaubte nur an das, was ich kontrollieren konnte.
    Wie einfach machte es mir meine kleine Tochter. Sie war zufrieden, wenn sie auf einer Decke saß und mit Klötzchen spielte. Und wenn sie rumkletterte, sah es so aus, als hätte sie alles im Griff. Kein Wunder, bei ihren Aktionen war sie vergleichsweise älter als ihr Bruder und ihr Bewegungsdrang deutlich geringer. Sie erkundete die Welt, ohne dass ich ständig am Herzinfarkt vorbeischrammte und Aufpassen! schreien musste wie bei Maik. Der verletzte sich nur selten, und wenn, dann nur, weil mein Schrei ihm nicht bei der Entscheidung half, ob er der Gefahr trotzen oder weglaufen sollte. So gewöhnte er sich an, zu mir zu rennen, damit ich den Rest regelte. Und dabei wurde es ihm immer gleichgültiger, ob ein Hund oder ein fahrendes Auto seinen Weg verstellte. Heute weiß ich: Nicht weil ich auf ihn aufpasste, sondern obwohl, verletzte er sich nicht. Mein Abenteurer war kein Selbstmörder; ich hatte ihn nur verwirrt und er einen ziemlich guten Schutzengel.
    Heute würde beim Lönneberga-Michel und bei meinem Maik ADHS diagnostiziert, das Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom. Sie müssten gewiss zur Therapie gehen und womöglich
Ritalin schlucken. Das brächte sie zur Vernunft und würde ihre überschüssige Energie in die richtige Richtung lenken. ADHS ist eine Jungenkrankheit, die ihre Väter noch nicht kannten. Die Ritalin- Abgabe hat sich in den letzten 15 Jahren verzehnfacht, die Zappelphillipe vermehren sich wie die Fliegen. Warum das so ist, weiß eigentlich keiner so genau, und bis es einer weiß, gilt der genetische Defekt im Stoffwechselsystem als beste Diagnose. Wir lieben physiologische Erklärungen, wenn sie uns davor bewahren, unser eigenes Tun überdenken zu müssen. Nach Muttermilch für die Immunabwehr und Biokarotten für eine gedeihliche Entwicklung verhilft der Wirkstoff Methylphenidat dem nervigen Rüpel zu einer positiv ausgerichteten Kommunikationsfähigkeit. Die großen naturbelassenen Ideen stehen im Mittelpunkt unserer liebevollen Betrachtung des Nachwuchses, doch wenn sie uns da im Wege stehen, machen wir lieber Frieden mit der Pharmaindustrie. Die 1000-Volt-Wirbler leiden derweil am meisten darunter, dass sie keinen Raum haben und keinen Halt finden, ruhelos irren sie umher im Niemandsland zwischen all den coolen und jung gebliebenen Erwachsenen.
    Nur die Gnade der frühen Geburt bewahrte Michel davor, ein ADHS-Patient zu werden. Maik wurde durch die Profession seines Vaters geschützt: Einem Schulpsychologen redet man nicht ganz so schnell rein.
    Nichts sollte an meine beiden Lieblinge drankommen, dabei empfand ich mich nicht als übertrieben ängstlich. Ich passte gut ins Bild der kreativen Elitemutter mit Macht. Um uns herum sah ich nur Väter, die mit ihren Kindern Brettspiele spielten, anstatt sie durch die Luft zu schleudern und erst die Haftungsbedingungen auf dem Spielplatz studierten, bevor sie ihr Kind auf die Rutsche setzten.
    Und ich betrat Wohnungen, wo alle Ecken abgerundet waren, noch bevor der Nachwuchs überhaupt laufen konnte. Mein Mann war nur dann ein guter Vater, wenn er sich wie die bessere Mutter verhielt. Ständig rang ich ihm das nicht einlösbare Versprechen ab, dass immer alles gut gehen würde und er meinte, dass es dann wohl am besten wäre, ich wäre gleich überall mit dabei, um es zu überwachen. Ich sah andere Männer, die auch nicht gegen das
haarkleine Fürsorge-Briefing ihrer Frauen argumentierten, sondern schwiegen, was ihre Frauen und ich als Zustimmung werteten. Und deshalb kam ich auf den Gedanken, die ganze Emanzipation sei im Grunde eine männliche Idee gewesen, nur damit sie es bequemer haben können.
    So sehr ich meinen Jungen körperlich beschützte und auf ihn aufpasste, so sehr zog ich ihn mit rein, wenn es darum ging, die Welt durch meine Brille zu sehen. Ich ernannte meinen Kleinen zu meinem Ritter, dem ich beibrachte sich beim Pinkeln hinzusetzen. Heute erinnere ich mich nicht mehr, warum eigentlich. Wegen der Sauerei drumherum? Nur wer übt, trifft auch
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