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Mutterliebst (German Edition)

Mutterliebst (German Edition)

Titel: Mutterliebst (German Edition)
Autoren: Antoinette van Heugten
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Ereignisse, denkt sie leidvoll, verblassen ohnehin angesichts dessen, weshalb wir heute hier sind. Nachdem Max gestern zur Schule gefahren war, hatte sie ihren üblichen Kontrollgang durch sein Zimmer unternommen und dabei ein weiches, ledergebundenes Tagebuch unter seinem Bett gefunden. Schuldbewusst hatte sie den Metallverschluss mit einem spitzen Gemüsemesser geöffnet. Die erste Seite jagte ihr eine solche Angst ein, dass sie sich mit zitternden Händen auf den nächsten Stuhl fallen ließ. Die zwanzig Seiten in seiner jungenhaften Schrift enthüllten einen detaillierten Plan, der so furchterregend war, dass sie ihren abgehackten Atem und ihr ersticktes Schluchzen erst bemerkte, als sie sich im Raum umschaute und fragte, woher die Geräusche kamen. Lag die Schuld bei ihr? Hätte sie irgendetwas anders machen können? Besser? Die alte Scham und das schlechte Gewissen hatten sie von Neuem erfüllt.
    In diesem Moment öffnet sich die Tür, und Georgia kommt herein. Eine zierliche Blondine, die sich neben Danielle setzt und sie kurz, aber fest umarmt. Danielle lächelt. Georgia ist nicht nur ihre beste Freundin – sie gehört zur Familie. Danielle ist ein Einzelkind, dessen Eltern bereits verstorben sind. Deshalb hat sie sich in den vergangenen Jahren immer mehr auf Georgias unverbrüchliche Treue und Unterstützung verlassen – ganz abgesehen von ihrer tiefen Liebe zu Max. Von Georgias hübschem Gesicht durfte man sich nicht täuschen lassen – dahinter verbarg sich der messerscharfe Verstand einer harten Anwältin. Danielle kann sich nicht erinnern, wann sie sich das letzte Mal so gefreut hat, jemanden zu sehen. Georgia winkt zu Max herüber und schenkt ihm ein Lächeln. „Hallo, du.“
    „Hey.“ Nachdem er das einsilbige Wort ausgesprochen hat, schließt er die Augen und lässt sich tiefer in den Stuhl sinken.
    „Wie geht es ihm?“, fragt Georgia leise.
    „Entweder beschäftigt er sich mit seinem Laptop, oder er hängt ununterbrochen an diesem Telefon“, wispert Danielle zurück. „Er weiß nicht, dass ich sein … Tagebuch gefunden habe. Sonst hätte ich ihn nie hierherbekommen.“
    Georgia tätschelt tröstend Danielles Schulter. „Es wird alles gut werden. Irgendwie stehen wir das durch.“
    „Ich bin dir so dankbar, dass du gekommen bist. Du weißt gar nicht, wie viel mir das bedeutet.“ Sie zwingt sich, so normal wie möglich zu klingen. „Also, wie lief es heute Morgen?“
    „Ich habe es kaum rechtzeitig in den Gerichtssaal geschafft, aber ich denke, es lief okay.“
    „Was ist passiert?“
    Georgia zuckt die Achseln.
    „Jonathan.“
    Danielle drückt ihre Hand. Georgias Ehemann, Jonathan, ist zwar ein brillanter plastischer Chirurg, aber er ist dem Alkohol verfallen, was nicht nur seine Ehe gefährdet, sondern auch seine Karriere. Georgia hegt den Verdacht, dass er außerdem kokainabhängig ist, doch bislang hat sie diese Angst nur Danielle gegenüber geäußert. Niemand in ihrer Anwaltskanzlei scheint davon zu wissen, trotz Jonathans flegelhaftem Verhalten bei ihrer letzten Weihnachtsfeier. Die Kanzlei, eine konservative New Yorker Institution, toleriert kein Betragen, das nicht absolut makellos und vorbildlich ist. Da sie eine zweijährige Tochter hat, scheut Georgia vor dem Gedanken an eine Scheidung zurück.
    „Was war es diesmal?“, fragt Danielle.
    Georgias blaue Augen wirken verhangen. „Er ist um vier Uhr nachts nach Hause gekommen, im Badezimmer zusammengebrochen und hat sich von oben bis unten bepinkelt.“
    „Oh, Gott.“
    „Melissa hat ihn gefunden und ist weinend zu mir ins Schlafzimmer gerannt gekommen.“ Georgia schüttelt den Kopf. „Sie dachte, er wäre tot.“
    Diesmal ist Danielle diejenige, die ihre Freundin umarmt.
    Georgia ringt sich ein Lächeln ab und richtet ihren Blick auf Max, der noch tiefer im Stuhl versunken ist und anscheinend schläft. „Hat der Arzt sein Tagebuch gelesen?“
    „Ich denke schon“, antwortet Danielle erschöpft. „Ich habe es ihm gestern per Kurier zugeschickt.“
    „Hast du etwas von der Schule gehört?“
    „Er ist draußen.“ Max’ Schulleiter hat Danielle höflich zu verstehen gegeben, dass eine andere „Umgebung vermutlich erfolgreicher mit Max’ Bedürfnissen“ umgehen könne. Mit anderen Worten: Sie wollen ihn loswerden.
    Im Teenageralter hatte sich seine Asperger-Erkrankung gravierend verschlimmert. Während alle seine Altersgenossen die höheren schulischen Level erreichten, kämpfte Max mit Mittelschulniveau.
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