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Muttergefuehle

Muttergefuehle

Titel: Muttergefuehle
Autoren: Rike Drust
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Erinnerung an den Kaiserschnitt verblasst immer mehr. Dieses grüne Tuch als Begrenzung, dann wurde an mir geruckelt, dann spritzte das Tuch mit Blut voll, man drückte mir das verschmierte Kind ins Gesicht, brachte es weg und vernähte mich, wobei die PDA aufhörte zu wirken. Nie im Leben würde ich vergessen, wie sich das anfühlt, da war ich mir sicher. Aber auch wenn ich mir jetzt die Bilder ins Gedächtnis rufen kann, ich kann das Gefühl nicht zurückholen. Ausgelöscht. Vergessen.
    Das Schreckliche ist weg. Ich finde das schrecklich. Schließlich sollte mir die Erinnerung als Warnmechanismus dienen, nicht noch einmal schwanger zu werden. Genau wie das Gefühl, das ich in den ersten Monaten hatte, die Schwierigkeiten, die mir das Mutterdasein machte. Ich dachte, diese Einsamkeit, die ich empfunden habe, obwohl ich Tag und Nacht mit meinem Kind verbracht habe, wäre so tief verwurzelt in meinen Erinnerungen, dass ich selbst nach den Wechseljahren noch Angst vor einer ungewollten Schwangerschaft haben würde. Und wieder weiß ich zwar noch genau, wie ich meine Runden mit brüllendem Kind im Kinderwagen im Park gedreht habe, aber die Einsamkeit und die Verzweiflung, die auf fast jeder Runde dabei waren, sind weg. Das ist doch verrückt: Mein Sohn hat so viel gebrüllt, dass ich regelmäßig kurz vor einem Nervenzusammenbruch war, weil ich nie wusste, was er hat. Und nach nicht mal zwei Jahren muss ich mir Videos angucken, um mich überhaupt an den Klang seines Weinens zu erinnern. Aber ich will mich erinnern, verdammt!!! Immer wenn eine Mutter zu mir so etwas gesagt hat wie: »Ja, aber das war alles vergessen, als ich mein Kind im Arm hatte«, habe ich mir hinter ihrem Rücken den Finger in den Hals gesteckt und ihr einen sehr großen Vogel gezeigt. Ich hielt das für totalen Quatsch. Und jetzt sitze ich doch mit im Zug der überglücklichen, verliebten Mütter, die sich nur noch an die tollen Dinge wie kleine Beine in Strumpfhosen und erste Küsse mit viel Spucke erinnern.
    Dabei blieben mir mein bisheriges Leben lang immer die schlechten Erfahrungen besser in Erinnerung als die guten, schönen. Ich weiß zum Beispiel kaum noch etwas über meine vorherigen Beziehungen, aber die Trennungen kann ich bis ins kleinste Detail rekapitulieren. Wenn ich an Wohnungen denke, in denen ich mal gewohnt habe, fallen mir zuerst nur blöde Dinge ein, die dort passiert sind. Immer habe ich eher die schlechten Erfahrungen mit den dazugehörigen Gefühlen konserviert. Und jetzt so was! Nicht nur, dass ich mir aufgrund dieser Amnesie ein zweites Kind wünschen könnte. Ich bin eine Bedrohung für junge Mütter. Irgendwann, wenn sie mit Augenringen verzweifelt vor mir stehen, könnte ich diejenige sein, die so etwas sagt wie »Also meiner hat immer durchgeschlafen«, »Nee, er hat wirklich gar nicht gebrüllt« oder »Stillen hat von Anfang an super geklappt«, und sie damit extrem verunsichern. Das will ich nicht! Falls es doch passiert, darf jede, die diesen Satz von mir hört, ganz doll Brennnessel bei mir machen oder mir einen alten Fisch hinter die Heizung legen (heimlich).
    Gegen das Vergessen hilft:
    • Aufschreiben! Zum Beispiel in einem Buch, einem Tagebuch oder in Briefen.
    • Filmen! Auf den Videos kann ich alles sehen und noch am ehesten rekapitulieren, wie laut und anstrengend mein Sohn gebrüllt hat und wie schlimm unsicher ich war.
    • Reden! Nach den ersten Monaten habe ich so vehement den Standpunkt vertreten, dass ich auf keinen Fall ein zweites Kind will, weil ich das alles so schrecklich fand, dass ich jetzt regelmäßig darauf angesprochen beziehungsweise festgenagelt werde. Das sind gute Denkzettel!
    Jetzt ist er schon so groß.
    Das Bedauern über die Zeit, die so schnell verging.
    Der erste Geburtstag unseres Sohnes ist ausgefallen. Er hatte kurz zuvor eine Lungenentzündung und war noch nicht wieder richtig gesund. Ich verbrachte jeden Tag allein mit ihm zu Hause und war mit meinen Nerven am Ende. Er hat sich nicht allein beschäftigt, war aber von meinem Animationsprogramm nur halb begeistert und hing entweder jammernd an meinem Bein oder lag schlafend auf meinem Bauch. Am Tag, an dem ich eigentlich romantisch zurückblicken wollte auf seine Geburt und seine ersten Lebensmonate, war ich also nicht gefühlsduselig, sondern nur schwer beeindruckt davon, dass ich bis jetzt noch keinen Nervenzusammenbruch hatte und der Mann noch immer mit mir verheiratet war. Statt emotionalem Jahresrückblick war sein erster
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