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Mutproben

Mutproben

Titel: Mutproben
Autoren: Ole von Beust
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war es auch, die im Großen und Ganzen für meine Erziehung zuständig war. Sie war nicht streng, aber sie achtete sehr auf Umgangsformen. »Gerade stehen, Mäusi!«, das sagte sie immer zu mir, wenn ich mal wieder verträumt und mit hängenden Schultern Löcher in die Gegend starrte. Meine Mutter war ein warmer und liebevoller Mensch, aber eigene Bedürfnisse zeigen konnte sie kaum. Während mein Vater häufig Magengeschwüre hatte und hypochondrisch veranlagt war, extrovertiert und keine Hemmungen hatte, mir und meinen beiden Brüdern
seine Gefühlslagen zu zeigen, hielt unsere Mutter vor uns eine Fassade aufrecht, das Bild eines unverletzbaren Menschen. Eigene Gefühle hält man vor den Kindern zurück, das war ihre Prämisse. Sie war ein Pflichtmensch, ohne darüber groß zu reden oder gar freudlos zu wirken. Ich kann mich nicht daran erinnern, sie jemals krank erlebt zu haben. Manchmal lief ihr eine Träne die Wange herunter, sie hatte einen schweren Bandscheibenvorfall und ihr Leben lang starke Schmerzen zu erleiden, aber beklagt hat sie sich nie. Das ging gegen ihre Würde. So war ihr Naturell. Und es war sicherlich auch die Haltung einer ganzen Generation, die geprägt war durch die Erlebnisse der Nazizeit.
    Nach den Nürnberger Gesetzen war meine Mutter Halbjüdin. Ihr Vater, Großvater Carl-Ludwig Wolff, war das, was man wohl einen Textiljuden nannte. Er betrieb ein Geschäft für Stoffe und Textilien im mecklenburgischen Lübtheen, und bis zur Machtübernahme der Nazis war es das erste Haus am Platze, wie man damals sagte. Großvater Wolff war sehr jung schon verstorben, Ende der Zwanzigerjahre. Ich selbst habe ihn also nicht kennengelernt. Obwohl es doch ein viel zu früher Tod war, muss man in seinem Fall fast schon sagen, dass es ein Glücksfall war. Denn ihm blieb erspart, was seine Geschwister später durchmachen sollten: das Dritte Reich und seine Folgen. Einer der Brüder beging aus Verzweiflung Suizid, die anderen Geschwister wurden nach Theresienstadt verschleppt und dort umgebracht.
    Meine Mutter hingegen hat es weitestgehend unbeschadet durch die Nazizeit geschafft. Zwar musste sie nach der Machtergreifung
1933 selbst erleben, wie Mitschülerinnen plötzlich nicht mehr mit ihr zusammen sein durften. Da war sie vierzehn Jahre alt. Sie bekam mit, wie das Textilgeschäft, das meine Großmutter nach dem Tod ihres Mannes weitergeführt hatte, später als »jüdisches Geschäft« enteignet wurde. Dass mein ältester Bruder 1941 unehelich auf die Welt kam, weil meine Eltern nach geltendem Recht nicht heiraten durften, war natürlich ebenfalls ein Thema für die bürgerliche Familie meines Vaters. Aber dies waren Kleinigkeiten im Vergleich zu dem, was ihren Verwandten widerfuhr.
    Bei uns Zuhause wurde offen und viel darüber gesprochen, daran kann ich mich noch gut erinnern. Die Nazizeit, der Krieg, das waren keine Tabus. Im Gegenteil: Die Zeit des Nationalsozialismus spielte in meiner Kindheit eine große Rolle. Gerade durch meinen Vater, den das alles sehr beschäftigt hatte, weil er – als »Arier« mit einer »Halbjüdin« verheiratet – aus nächster Nähe die Tragödie hatte beobachten können. Meine Mutter allerdings war erst im Älterwerden in der Lage, wirklich offen über diese Zeit zu sprechen. Sie hatte, wie sie meinte, durchaus auch vergnügliche Jahre gehabt unter den Nazis mit Tanz und mit ausgelassenen Festen. Und sie hatte in diesen Jahren verdrängt, was mit ihren Verwandten geschehen war, die später im KZ ihr Leben verloren. Dass sie das damals nicht so gesehen, dass sie vielleicht sogar bewusst davor die Augen verschlossen hatte, aus Unbekümmertheit oder aus schlichter Angst vor der grausamen Realität, das nagte an ihr, und das lastete sie sich persönlich als moralische Verfehlung an. Bis zuletzt.

    Meine Großmutter hatte es da viel unmittelbarer getroffen als meine Mutter. Der frühe Tod des Mannes, die drei Kinder, die meine Großmutter allein großziehen musste, das Textilgeschäft, das sie an die Nazis verlor, und die Demütigungen, die sie als Frau eines Juden, auch wenn mein Großvater schon lange tot war, ertragen musste, das hatte Spuren hinterlassen. Sie war skeptisch geworden. Und doch verlor sie nie ihren Lebensmut. Der Laden wurde ihr 1945 wieder zugesprochen – ein großes Glück. Er wurde ihr Halt, ihr Ein und Alles in einer Zeit, die wenige Lichtblicke bereithielt für die Menschen nach dem Krieg. Mit enormem Fleiß und unerschöpflichem Willen machte sie ihn
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