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Mutproben

Mutproben

Titel: Mutproben
Autoren: Ole von Beust
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Parteiprogramm. Dieses Buch ist der Versuch, meine Sicht auf die Dinge darzulegen, auf die Motive meines Handelns.

Teil 1
    [REF 1]
    »Wie es einem im Leben ergeht, ist hauptsächlich Sache des Glücks oder der Gnade, und zu einem verhältnismäßig kleinen Teil vielleicht auch Sache der Tüchtigkeit, des Fleißes und anderer Tugenden.«

    Karl Popper
    »Die Philosophie und die Wissenschaft«

Kindheit I – Oder warum ich ein Individualist bin
    Es ist schon einige Jahre her, als ich mich auf die Suche machte nach den letzten Resten meiner Kindheit. Im Wald wollte ich sie finden, im Naturschutzgebiet am äußersten Rand der Stadt. Es war merkwürdig, aber immer wieder träumte ich intensiv vom Haus meiner Eltern, obwohl ich schon längst erwachsen war. Mein Vater hatte das Haus nach dem Tod meiner Mutter aufgegeben, weil er dort draußen, alleine, nicht mehr wohnen wollte. Er zog ins Alstertal, unser Haus wurde abgerissen, und so stand ich also da, an diesem Tag vor fünfzehn Jahren etwa, mitten im Grünen, und suchte die Natur ab nach irgendeinem Anhaltspunkt. Doch da war nichts. Kein noch so kleines Relikt war übrig geblieben vom schönen Norweger-Holzhaus im Hochmoor. Nur zwei alte Bäume standen noch da, auf denen ich als Kind gern in schwindelerregender Höhe herumgeturnt bin. Die Natur hatte sich ihren Raum zurückerobert.
    Mich überkam ein schmerzliches Erwachen. Die Jahre dazwischen hatten alle Spuren verschluckt, nur meine Erinnerung konservierte noch die Bilder von früher als verschwommene Momente. Ich spürte plötzlich, wie mit dem Haus auch das Gefühl der Geborgenheit, der Heimat einfach weggerissen worden war. Zu der Zeit war ich etwa vierzig Jahre alt, Oppositionsführer der CDU in der Hamburger Bürgerschaft, und vielleicht klingt das manchem auch etwas naiv, doch die Kindheit hatte mich bis zu diesem Tag nicht ganz losgelassen.
Denn es war eine wunderbare Kindheit, eine Kindheit wie im Märchen. Und rückblickend betrachtet war es die glücklichste, die unbeschwerteste und prägendste Zeit meines Lebens.

    Insgesamt standen mit unserem gerade mal fünf Häuser im Naturschutzgebiet. Duvenstedter-Brook, die nächste Zivilisation lag vier Kilometer entfernt. Als Kind fand ich das natürlich herrlich, die Abgeschiedenheit in der Natur, die endlose Freiheit. Aber eigentlich lebten wir am Ende der Welt. Die Ruhe von damals, nur das Rauschen der Bäume, der Wind und die Vögel, das hallt noch heute in mir nach. Manchmal rannte ich ins Haus hinein zu meiner Mutter, nur um überhaupt mal irgendwas zu hören, und wenn es nur das Klappern des Geschirrs war, während sie in der Küche herumwerkelte. Es gab kaum Autos dort draußen bei uns, keinen Lärm. Nur einmal im Jahr wurde es doch ziemlich laut in der Stille: wenn die Hirsche ihre Brunftzeit hatten. Bis auf hundert Meter kamen sie an unser Haus heran. Ich verkroch mich dann ins Bett, zog die Decke über den Kopf und lauschte gespannt auf das Röhren dieser Viecher. Man muss es selbst mal gehört haben, um eine Vorstellung davon zu bekommen, wie krachend und mächtig dieses Grunzen ist. Angst hatte ich nie, aber es war doch immer wieder ein beeindruckendes Erlebnis, diesen Tieren so nah zu sein.
    Der Ohlstedter Bahnhof, die letzte Station vor der Hamburger Stadtgrenze, das war also schon die große weite Welt für mich. Dort gab es den Spar-Laden von Herrn Halfmann und ein kleines Café, wo ich Süßigkeiten geschenkt bekam. Und
gleich um die Ecke gab es einen Friseurladen, Salon Köhn, bei dem ich mal bei einem Preisausschreiben mitmachen durfte und prompt eine Flasche Birkin gewann, auf die ich dann auch besonders stolz war. Mich kannten hier alle. Wenn ich zu Sadowski ging, dem Laden direkt am Bahnhof, und kein Geld mehr hatte, um mir Salinos zu kaufen oder diese kleinen Weingummiteufelchen, die ich so gerne mochte, dann brauchte ich nur zu sagen: »Mami zahlt«, und ich konnte die Süßigkeiten mitnehmen. Diese Erinnerungen haben sich mir tief eingeprägt. Ich musste nie Angst haben, ich war immer auf der sicheren Seite. Ich wusste, dass meine Mutter immer für mich da sein würde. »Mami zahlt«, das war im Grunde ein Synonym dafür, dass mir im Leben nichts passieren konnte.

    Von meinem Vater habe ich in den ersten fünf Jahren eher wenig mitbekommen. Er war zu jener Zeit Bezirksbürgermeister in Wandsbek und kam abends meist spät nach Hause. Meine Mutter war der emotionale Bezugspunkt für mich, mit ihr war ich die meiste Zeit zusammen, und sie
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