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Mustererkennung

Mustererkennung

Titel: Mustererkennung
Autoren: William Gibson
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häppchenweise unter die Leute gebracht wird?
    Im Forum war sie noch nicht. Zuviel Vorabinformation. Sie will jedes neue Segment so unverfälscht wie möglich erleben.
    Parkaboy sagt, man müsse an jeden neuen Clip herangehen, als ob man noch nie einen gesehen hätte. Es sei wichtig, sich für den Moment von dem Film oder den Filmen freizumachen, den oder die man sich inzwischen bewußt oder unbewußt zusam—mengebastelt hat.
    Das mache nun mal den Homo sapiens aus, Mustererkennung, sagt er. Eine Gabe, aber auch eine Falle.
    Sie drückt langsam das Sieb hinunter.
    Gießt sich Kaffee in einen Becher.
    Drapiert ihre Jacke wie ein Cape um die glatten Schultern der einen Roboternymphe, deren weißer Torso, auf der Edelstahl-scham balancierend, an der grauen Wand lehnt. Neutrale Miene. Blicklose Gelassenheit.
    Siebzehn Uhr, und Cayce kann kaum noch die Augen offen halten.
    Führt den Becher mit ungesüßtem schwarzem Kaffee an die Lippen. Mausklick.
    Wie oft hat sie das schon gemacht?
    Wie lange ist es her, daß sie sich dem Traum überlassen hat?
    Maurices Ausdruck für Cliphead-Sein: sich dem Traum überlassen.
    Damiens Studio-Display füllt sich mit absolutem Dunkel. Es ist, als erlebte sie die Geburt des Kinos, den Moment, ehe die Lumièresche Lokomotive aus der Leinwand hervorfaucht und die Zuschauer hinausjagt in die Pariser Nacht.
    Licht und Schatten. Die Wangenknochen eines Liebespaars im Vorspiel zum Kuß.
    Cayce läuft es kalt den Rücken runter.
    So lange schon, und noch nie haben sie sich berührt.
    Um die beiden herum lockert jetzt eine Textur das Dunkel auf. Beton?
    Gekleidet sind sie wie immer. Darüber hat Cayce sich ausgie—big im Forum verbreitet, fasziniert von der Zeitlosigkeit dieser Kleidungsstücke. Damit kennt sie sich aus. Wie schwer das ist.
    Auch das mit den Frisuren.
    Er könnte ein Matrose sein, der 1914 an Bord eines U-Boots geht, oder ein Jazzmusiker, der 1957 einen Club betritt. Diese Vermeidung jedweder Zeitindizien ist, das kann Cayce beurteilen, einfach meisterhaft. Sein schwarzer Mantel wird gewöhnlich als Ledermantel gedeutet, obwohl er auch aus mattem Vinyl oder Gummi sein könnte. Der Kragen ist auf diese typische Art hochgeschlagen.
    Das Mädchen trägt einen längeren Mantel, ebenfalls dunkel, aber anscheinend aus Stoff. Die Schulterpolster waren in einigen hundert Postings Thema. Eigentlich müßte die Architektur der Polster eines Damenmantels auf bestimmte Modeepochen – konkrete Jahrzehnte – hindeuten, aber bislang gab es da keine Einigkeit, nur Kontroversen.
    Sie trägt keine Kopfbedeckung, was entweder als Beleg dafür gewertet wurde, daß es sich nicht um einen Zeitfilm handelt, oder aber als Hinweis darauf, daß sie ein Freigeist ist und sich auch über die grundlegendsten Konventionen ihrer Zeit hin-wegsetzt. Ihr Haar wurde ähnlich gründlich unter die Lupe genommen, aber auch da bisher kein einmütiger Befund.
    Einhundertvierunddreißig Fragmente, die von ganzen Heer—scharen fanatischer Forscher endlos verglichen und seziert wurden, und immer noch keine schlüssigen Hinweise auf eine bestimmte Zeit oder Handlungsabfolge.
    Wo sich die Spekulationen ins Surreale hochschaukelten, brachten sie Geisterstorys hervor, die ein schattenhaftes, aber hartnäckiges Eigenleben angenommen haben, aber Cayce kennt sie alle und hält sie von sich fern.
    Und jetzt, da sie hier in Damiens Wohnung sitzt und verfolgt, wie sich die Lippen der beiden finden, weiß sie, daß sie nichts weiß, sich aber nichts sehnlicher wünscht, als den Film zu sehen, zu dem das hier gehört. Gehören muß.
    Irgendwo über den beiden blitzt etwas weiß auf, wirft eine Caligari-Schattenklaue, dann ist der Bildschirm leer.
    Sie klickt auf Wiederholung. Sieht es sich noch mal an.
    Sie geht auf die Site und scrollt eine volle Seite Postings hinunter. Durch das Auftauchen von #135 haben sich heute schon mehrere Seiten angesammelt, aber im Moment ist ihr nicht danach.
    Das kommt ihr alles so irrelevant vor.
    Eine Welle bricht über sie herein, schiere Erschöpfung, gegen die der kolumbianische Kaffee machtlos ist.
    Bleischwer vor Müdigkeit und gleichzeitig innerlich vibrie—rend vom Koffein zieht sie sich aus, putzt sich die Zähne, knipst die Lampen aus und kriecht buchstäblich unter die steife Silber-decke auf Damiens Bett.
    Rollt sich zusammen und staunt, während eine letzte Welle über sie hinrauscht, noch kurz über ihre vollkommene – und jetzt auf so vollkommene Art zum Vorschein gebrachte –
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