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Muße: Vom Glück des Nichtstuns (German Edition)

Muße: Vom Glück des Nichtstuns (German Edition)

Titel: Muße: Vom Glück des Nichtstuns (German Edition)
Autoren: Ulrich Schnabel
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kein rares Gut mehr, meint Baker: »Wir können uns mit ihnen überfrachten. Wir können uns am Ramsch ins Koma saufen. Mehr als je zuvor müssen wir steuern, was wir in unsere Köpfe lassen.« Die Frage »Was lassen wir in unsere Köpfe« ist für Baker sogar » die Frage unserer Generation.« 17
    Bezüglich unseres Umgangs mit Informationen stehen wir in der digitalen Welt also vor derselben Herausforderung wie angesichts der unendlich verfügbaren Kalorienmenge in einem Supermarkt: Wir müssen die richtige Mischung finden und lernen, uns zu bescheiden. Längst geht es nicht mehr um die verfügbare Quantität, sondern um die Qualität dessen, was wir zu uns nehmen.

III
     
    DER WERT DES NICHTSTUNS
     
    W as haben Cicero, Montaigne, Mark Twain, Winston Churchill, Albert Einstein und John Lennon gemein? Antwort: Sie waren allesamt große Freunde der (Bett-)Ruhe und liebten ihren Schlaf. Bei dem französischen Essayisten Michel de Montaigne ging diese Liebe sogar so weit, dass er seinen Diener anwies, ihn mitten in der Nacht zu wecken, damit er das Gefühl der Schläfrigkeit und das Vergnügen, wieder einzuschlafen, noch einmal genießen konnte. Denn das einzig Bedauerliche am Schlaf, so argumentierte Montaigne, sei der Umstand, dass man sich dessen Freuden, während man schlafe, leider nicht bewusst sei.
    Inzwischen wagt es kaum noch jemand, den Schlaf derart zu verherrlichen. Im Gegenteil: Heute heißt es, früh und munter aus dem Bett zu springen und freudig sein Tagwerk in Angriff zu nehmen. Damit wir dem Übel des Schlafes nicht zu sehr frönen (oder zumindest ein schlechtes Gewissen haben, falls wir es doch einmal tun), hämmert man uns von Kindesbeinen an ruhestörende Merksätze in den Kopf wie »Morgenstund hat Gold im Mund« oder, in grauslicher angelsächsischer Eindeutschung: »Früher Vogel fängt den Wurm«. Benjamin Franklin hat auf ganzer Linie gesiegt, jener amerikanische Staatsmann und Erfinder des Blitzableiters, der schon im 18. Jahrhundert das Frühaufstehen pries und in einem Tugendweiser sich und seine Zeitgenossen pausenlos antrieb: »Verliere keine Zeit, sei immer mit etwas Nützlichem beschäftigt; entsage aller unnützen Tätigkeit.« Der Forscher, der seinen Tagesablauf mit wissenschaftlicher Gründlichkeit organisierte, unterwarf nicht nur die Naturgesetze, sondern auch sein Leben einem strengen Kalkül, er legte sich in einem Tagebuch über jede Stunde seines Tages Rechenschaft ab und prägte schließlich in seinem Advice to a Young Tradesman 1748 jenen schicksalhaften Satz, der zur stahlharten Doktrin der industriellen Moderne werden sollte: »Zeit ist Geld«. 1
    Heute, ein Vierteljahrtausend später, sind wir alle kleine Franklins geworden. Die Ansichten des zwanghaften amerikanischen Fleißapostels haben sich gegen die genießerische Entspanntheit eines Michel de Montaigne auf ganzer Linie durchgesetzt. Statt den Schlaf zu lieben und zu zelebrieren, klagen insgesamt rund 70 Prozent aller Deutschen über »gelegentliche«, »häufige« oder »ständige« Schlafprobleme. Sie liegen nachts wach, wälzen sich im Bett und fühlen sich morgens unausgeschlafen und schlecht erholt. 2 Fast genau so viele, nämlich 72 Prozent, antworten auf die Frage nach dem Motiv für ihre tägliche Arbeit ganz im Sinne Franklins: »Um Geld zu verdienen.« Dass man mit Arbeit auch positive Effekte wie »Selbstbestätigung« oder »Kontakt mit anderen Menschen« verbinden könnte, kommt nur einer Minderheit in den Sinn. 3 Kurz gesagt: Wir schlafen schlecht und hassen unsere Arbeit, und höchstwahrscheinlich hat das eine mit dem anderen eine ganze Menge zu tun.
    Höchste Zeit für eine Kurskorrektur. Höchste Zeit, sich von Benjamin Franklin nicht länger tyrannisieren zu lassen und seine (Lebens-)Zeit nicht ausschließlich mit Geldverdienen gleichzusetzen, sondern einmal die Freuden des Nichtstuns, des Faulenzens und des Dösens zu preisen. Da wir allerdings die Tugendpredigten von Franklin und seinen zahllosen Nachfolgern inzwischen so verinnerlicht haben, dass wir den Müßiggang unwidersprochen als aller Laster Anfang akzeptieren, müssen wir zu einem Trick greifen: Wir schlagen die Jünger der Fleiß- und Produktivitätsreligion mit ihren eigenen Waffen. Indem wir uns nämlich bewusst werden, dass müßiggängerische Zustände wie Schlafen, Meditieren oder schlichtes Aus-dem-Fenster-Schauen keinesfalls verlorene Zeit sind. Im Gegenteil: Sie fördern nicht nur Wohlbefinden und Kreativität, sondern
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