Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Morton, Kate

Morton, Kate

Titel: Morton, Kate
Autoren: Die fernen Stunden
Vom Netzwerk:
Der Gedanke war ganz klar, so als hätte sie ihn gelesen, schwarzer Text
auf weißem Papier, und das Alleinsein bedeutete Schmerz, eine bohrende Wunde.
Sie hatte damit gerechnet, dass noch jemand anders hier bei ihr sein würde.
Ein Mann. Sie hatte einen Mann erwartet.
    Eine
seltsame Vorahnung überkam sie; sich nicht an das erinnern zu können, was in
der verlorenen Zeit geschehen war, war normal, aber da war noch etwas anderes.
Juniper verhedderte sich im düsteren Gewirr ihrer Gedanken, aber obwohl sie
nicht sehen konnte, was um sie herum lag, war sie erfüllt von einer Gewissheit,
einer bedrückenden Angst, dass etwas Schreckliches in ihrem Innern
eingeschlossen war.
    Ich erinnere mich nicht.
    Sie
schloss die Augen und lauschte angestrengt; auf irgendetwas, das ihr helfen
könnte. Es war nichts zu hören von dem Treiben auf Londons Straßen, von den
Bussen, den vielen Menschen, kein Gemurmel aus den anderen Wohnungen. Aber die
Adern des Hauses ächzten, die Mauern seufzten, und da war noch ein anderes,
anhaltendes Geräusch. Regen - leichter Regen auf dem Dach.
    Ihre Augen
öffneten sich. Sie konnte sich an Regen erinnern.
    An einen
Bus, der anhielt.
    Sie
erinnerte sich an Blut.
    Juniper
setzte sich abrupt auf. Sie war so konzentriert auf diese eine Sache, auf
diesen kleinen Lichtblick der Erinnerung, dass sie ihre Kopfschmerzen vergaß.
Sie erinnerte sich an Blut.
    Aber
wessen Blut?
    Die Angst
verlagerte sich, streckte ihre Fühler aus.
    Sie
brauchte Luft. Im Dachzimmer war es plötzlich stickig; die Luft war warm und
feucht und schwer.
    Sie
stellte die Füße auf den Holzboden. Ihre Sachen lagen überall herum, aber sie
hatte keinen Bezug zu ihnen. Irgendjemand hatte sich bemüht, Ordnung zu
schaffen in dem allgemeinen Durcheinander.
    Sie stand
auf. Sie erinnerte sich an Blut.
    Was
brachte sie dazu, ihre Hände anzuschauen? Was auch immer es sein mochte, sie
schreckte davor zurück. Etwas war an ihren Händen. Sie wischte sie hastig an
ihrem Nachthemd ab, und diese Handlung verursachte ihr ein vertrautes Kribbeln
unter der Haut. Als sie die Hände etwas höher hob, um besser sehen zu können,
verschwanden die Flecken. Schatten. Es waren nur Schatten gewesen.
    Verwirrt,
aber auch erleichtert trat sie mit unsicheren Schritten ans Fenster, zog den
Verdunkelungsvorhang zur Seite und schob das Fenster hoch. Eine leichte frische
Brise strich ihr über die Wangen.
    Die Nacht
war mondlos, Sterne waren auch nicht zu sehen, aber Juniper brauchte kein
Licht, um zu wissen, was unter ihr lag. Die Welt von Milderhurst bedrückte sie.
Im Unterholz zitterten unsichtbare Tiere, im Wald murmelte der Bach, in der
Ferne klagte ein Vogel. Wo hielten sich eigentlich die Vögel auf, wenn es
regnete?
    Da war
noch etwas anderes, direkt unter ihr. Ein kleines Licht, eine Lampe, die an
einem Stock hing. Jemand war da unten auf dem Haustierfriedhof.
    Percy.
    Percy mit einer Schaufel. Sie
grub.
    Etwas lag
auf dem Boden hinter ihr. Ein Bündel. Groß, reglos.
    Als Percy
zur Seite trat, riss Juniper vor Schreck die Augen auf. Sie sandten rasend
schnell eine Nachricht an ihr gequältes Hirn, das Licht in ihrem Kopf
flackerte, und sie sah deutlich, nur einen kurzen Moment lang, das
schreckliche, furchtbare Ding, das sich dort versteckte; das Böse, das sie
gespürt, aber nicht gesehen hatte, das ihr solche Angst eingejagt hatte. Sie
sah es, sie gab ihm einen Namen, und das Entsetzen fuhr ihr bis in die
Nervenenden. Du bist genau wie ich, hatte ihr
Vater gesagt, bevor er ihr seine grausige Geschichte gebeichtet hatte ... Ein
Kurzschluss, und die Lichter in ihrem Kopf erloschen.
     
    Verdammte Hände.
    Percy hob
die Zigarette, die ihr heruntergefallen war, vom Küchenboden auf, steckte sie
sich zwischen die Lippen und zündete das Streichholz an. Aber sie war zu
aufgewühlt. Ihre Hand zitterte wie Espenlaub. Die Flamme erlosch, und sie versuchte
es noch einmal ... Da bemerkte sie den dunklen Fleck auf ihrem Handgelenk, und
sie ließ erschrocken die Schachtel samt brennendem Streichholz fallen.
    Die
Streichhölzer lagen verstreut auf den Steinfliesen, und sie kniete sich hin, um
sie aufzulesen. Sie ließ sich Zeit, vertiefte sich in diese simple Aufgabe,
wickelte sie sich um die Schultern wie einen Mantel und machte alle Knöpfe zu.
    Es war
Schlamm an ihrem Handgelenk. Nichts als Schlamm. Nur ein kleiner Fleck, den sie
übersehen hatte, als sie am Waschbecken gestanden und sich den Schlamm von den
Händen, vom Gesicht, von den Armen geschrubbt
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher