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Morton, Kate

Morton, Kate

Titel: Morton, Kate
Autoren: Die fernen Stunden
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gedröhnt, dass er nicht
hörte, wie sein Vater ins Zimmer kam. Er wusste nur noch, dass der große Bär
ihn vom Boden aufgelesen, in seine riesigen Arme gehoben und fest an sich gedrückt
hatte; und dann hatte er Tom versichert, dass alles in Ordnung war, und der
süßsaure, wundervolle Duft nach Tabak in seinem Atem hatte es bewiesen. Aus dem
Munde seines Vaters klangen diese Worte wie eine Zauberformel. Ein Versprechen.
Und Tom hatte keine Angst mehr gehabt...
    Wo hatte
er die Marmelade gelassen?
    Die
Marmelade war wichtig. Der Mann in der Parterrewohnung hatte ihm gesagt, dass
es die beste war, die er je gekocht hatte; dass er die Brombeeren selbst
gepflückt und dass er die Zuckerrationen von mehreren Monaten gebraucht hatte.
Aber Tom konnte sich einfach nicht erinnern, wo er sie gelassen hatte. Er
hatte sie gehabt, so viel wusste er. Er hatte sie in seinem Seesack von London
mitgebracht, aber dann hatte er sie herausgenommen und auf den Boden gestellt.
Hatte er sie unter dem Tisch stehen lassen? Als er sich vor dem Unwetter
versteckt hatte, hatte er da die Marmelade mitgenommen? Er musste aufstehen
und sie suchen, das würde er jetzt tun. Das musste sein, die Marmelade war ein
Geschenk. Er würde sich aufmachen und sie ganz schnell finden, und dann würde
er darüber lachen, denn er hätte sie ja auch verloren haben können. Aber vorher
würde er noch einen Moment ausruhen.
    Er war
müde. So müde. Die Fahrt hierher hatte so lange gedauert. Das Gewitter, dann
der mühsame Weg die Zufahrt hoch, den ganzen Tag lang Züge und Busse, die er
beinahe verpasst hätte, aber das Wichtigste war, dass die Fahrt ihn zu ihr
geführt hatte. Er war so weit gelaufen; er hatte so viel gelesen, gelehrt,
geträumt, gewünscht, so viel erhofft. Es war nur natürlich, dass er sich
ausruhen musste, dass er einfach die Augen schließen und sich eine Pause gönnen
würde; nur ein bisschen ausruhen, damit er bereit war, wenn er sie wiedersah
...
    Tom
schloss die Augen, und er sah Millionen winziger Sterne, die blinkten und sich
hin und her bewegten, und sie waren so wunderschön, und er wollte ihnen nur
noch zusehen. Es gab nichts mehr auf der Welt, was er lieber tun wollte, als
dazuliegen und diese Sterne zu betrachten. Und als er dalag und sah, wie sie
herumwirbelten, fragte er sich, ob er sie vielleicht berühren konnte, die Hand
ausstrecken und einen fangen konnte, und dann sah er schließlich, dass sich
etwas hinter ihnen verbarg. Ein Gesicht, Junipers Gesicht. Sein Herz bekam Flügel.
Sie war da, endlich bei ihm. Sie war ganz nah, beugte sich zu ihm herunter,
legte ihm die Hand auf die Schulter und sprach in sanften Worten zu ihm. Die
Worte, sie schienen alles so vollkommen zu erklären, doch als er versuchte, sie
zu wiederholen, zerrannen sie zu Wasser, und in ihren Augen schimmerten die
Sterne, und auch auf ihren Lippen, und kleine Lichter hingen schimmernd in
ihren Haaren; und er konnte sie nicht mehr hören, obwohl ihre Lippen sich
bewegten und die Sterne blinkten, denn sie entschwand, bis es ganz dunkel um
sie wurde; und auch er war dabei zu entschwinden.
    »June
...«, flüsterte er, als die letzten kleinen Lichter zu flackern begannen und
eins nach dem anderen erloschen, als schwerer Schlamm ihm die Nase, den Mund,
die Kehle verstopfte, als schließlich alle Luft aus seinen Lungen entwichen
war. Er lächelte, als ihr Atem seinen Hals liebkoste ...
     
    3
     
    Juniper
schreckte mit pochenden Kopfschmerzen und einem bitteren Geschmack im Mund aus
dem Schlaf. Ihre Augen schmerzten. Wo war sie? Es war dunkel, es war Nacht,
aber von irgendwoher kroch schwaches Licht herein. Sie blinzelte und nahm hoch
über sich eine Zimmerdecke wahr. Die Balken waren ihr vertraut, und doch
stimmte irgendetwas nicht. Was war geschehen?
    Etwas musste geschehen
sein, sie wusste es, sie konnte es spüren. Aber was?
    Ich erinnere mich nicht.
    Sie drehte
den Kopf - langsam - und ließ das Gewirr einzelner, namenloser Objekte in
ihrem Innern durcheinanderpurzeln. Sie sah sich um auf der Suche nach
Hinweisen, konnte aber nichts erkennen als ein leeres Blatt Papier, ein
vollgestopftes Regal und einen schmalen Lichtstreifen, der durch eine angelehnte
Tür ins Zimmer fiel.
    Juniper
wusste, wo sie war. Sie befand sich im Dachzimmer von Schloss Milderhurst. Sie
lag in ihrem alten Bett. Sie war schon lange nicht mehr hier gewesen. Es hatte
ein anderes Dachzimmer gegeben, sonnendurchflutet, ganz anders als das hier.
    Ich erinnere mich nicht.
    Sie war
allein.
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