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Morgenrot

Morgenrot

Titel: Morgenrot
Autoren: Tanja Heitmann
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recht: dunkelblond? Auf jeden Fall leicht gewellt. Was soll ich sagen: Der Mann ist ein wandelnder Höhepunkt.« Während Nadine sprach, schaute sie unverwandt das Objekt ihrer Begierde an. »Himmel, was für ein eindringlicher Gesichtsausdruck - ich würde glatt der ganzen Bar eine Runde ausgeben, wenn ich dafür seine Gedanken lesen könnte. Da kann nur irgendetwas Verdorbenes sein.«
    Lea konnte ein angetrunkenes Kichern nicht unterdrücken - dieser schöne Mann war verloren. Obwohl sie ihre Freundin noch nie auf Männerjagd erlebt hatte, da sie Parties normalerweise früh verließ, hatte sie schon einige Geschichten über Nadine auf der Hatz gehört. Schließlich machte sie keinen Hehl aus ihren Bedürfnissen.
    »Tu mir den Gefallen und riskier mal einen Blick«, forderte Nadine sie nun auf. »Ich möchte nämlich gern deine Meinung hören, bevor ich mich auf den Weg zur Bar mache: Frauenbeglücker oder Triebtäter?«
    Wie befohlen, ließ Lea die Augen durch die Menge wandern, und obgleich ihr einige gut aussehende Männer auffielen, entsprach keiner Nadines Beschreibung. Gerade als sie Nadine um bessere Koordinaten bitten wollte, traf sie ein Blick direkt. In Sekundenschnelle schaltete Leas Alarmsystem auf Rot. Ihre Bauchmuskeln zogen sich schmerzhaft zusammen. Ihre Lungen streikten, als hätte sie einen mörderischen Schlag abbekommen.
    Lea erwiderte den Blick noch lange genug, um festzustellen, dass er zu einem Mann in der Nähe der Bar gehörte.
    Ruckartig senkte sie das Kinn bis auf die Brust. Panik machte sich in ihr breit und legte alle Hebel hinter ihrer Stirn um. Nadines Geschnatter an ihrer Seite wurde zu einem monotonen Rauschen. Der Wein kroch ihr bedrohlich die Speiseröhre hinauf. Ihre Hände, die glücklicherweise unter der Tischplatte verborgen waren, begannen wie Schmetterlingsflügel zu flattern. Ihr Gesicht war kreidebleich, selbst ihre Lippen hatten die Farbe verloren.
    Eine Flucht war undenkbar. Selbst wenn Lea ihren Körper unter Kontrolle gehabt hätte, so war doch ein Raum voller Menschen der nachtgrauen Straße, auf der sich bei diesem frostigen Novemberwetter niemand aufhielt, hundertmal vorzuziehen.
    Während Lea sich selbst nach Luft japsen hörte, forderte Nadine, deren Stimme einen nervösen Zug angenommen hatte, ihre Aufmerksamkeit. Doch Lea war nicht bereit, irgendjemandem in diesem Raum Beachtung zu schenken. Die Furcht, die ihre Seele und ihren Körper in einem eisernen Griff hielt, raubte ihr fast den Verstand, drohte sie zu vernichten.
    Mit einer immensen Willensanstrengung gelang es ihr, darüber nachzudenken, was sie eben gesehen hatte. Lediglich ein paar Augen -nein, noch nicht einmal das. Nur einen Ausdruck, an den sie sich zu erinnern glaubte. Sollte sie einen zweiten Blick riskieren? Vielleicht hatte sie sich ja getäuscht? Wie oft war ihr das in den letzten Jahren schließlich passiert. Sie musste lediglich aufschauen, um festzustellen, dass sie sich geirrt hatte. Dann würde ihr inneres Warnsystem den Ausnahmezustand beenden. Aber Lea spürte instinktiv, dass es dieses Mal anders war. Während die Panik nämlich weiterhin ihren gesamten Körper lähmte, fühlte sie zugleich das altbekannte Kribbeln und Ziehen, das sich vom Zentrum ihres Bauchs auszudehnen begann. Das unverkennbare Zeichen, dass er sich wirklich in ihrer Nähe befand.
    Ich bin verloren!
    Der Gedanke brannte sich in Leas Bewusstsein und weckte die Erinnerung an den Liebestaumel, der der Furcht vorangegangen war. Das stehe ich nicht noch einmal durch. Ich muss sofort etwas unternehmen, mich in Bewegung setzen, schreien ... irgendwas! Himmel, was mache ich bloß? Leas Gedanken drehten sich im Kreis, bis ihr die Entscheidung abgenommen wurde.
    Als die dunkle Gestalt neben ihr auftauchte, biss Lea die Zähne zusammen, bis der Kiefer schmerzte, und starrte hilflos geradeaus. Schweiß bedeckte ihre Stirn, aber sie war unfähig, die Hand zu heben und ihn wegzuwischen. Aus den Augenwinkeln nahm sie wahr, dass er nicht einmal eine Hand breit von ihr entfernt stehen blieb. Ein Teil von ihr, den sie zu hassen gelernt hatte, sehnte sich danach, diese Distanz zu überbrücken.
    »Es ist schön, dich wiederzusehen«, sagte er mit seiner betörenden Stimme.
     

1. Ostwind
    Obwohl es noch früher Nachmittag war, war die Dämmerung schon vor einigen Stunden hereingebrochen. Schonungslos und unvermittelttauchte sie alles ins Dunkel. In diesen östlich gelegenen Breitengraden gab es keinen sanften Übergang zwischen Tag
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