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Morgenrot

Morgenrot

Titel: Morgenrot
Autoren: Tanja Heitmann
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die ihr gegenübersaßen und imgleichen Rhythmus Kaugummi kauten. Sie alle trugen weiße Stiefel und kurze Röcke, die Beine nur mit Nylons verhüllt. Über ihre kunstvoll hochgesteckten Frisuren hatten sie keine Wollmützen gezwängt, und die Reißverschlüsse ihrer knappen Jacken standen nachlässig offen.
    Ganz versunken in diesen Anblick absoluter Frostresistenz, bemerkte Lea nicht, dass eine der Frauen sie abfällig musterte. Als sie Lea schließlich mit scharfem Ton ansprach, zuckte die schuldbewusst zusammen. Trotz eines zweiwöchigen Intensivkurses verstand Lea nämlich kein einziges Wort. Konzentriert starrte sie der jungen Frau auf die Lippen, was diese offensichtlich noch unhöflicher fand als das Anstarren zuvor. Kurzerhand bewarf sie Lea mit zusammengeknülltem Kaugummipapier.
    »Ja, vielen Dank«, sagte Lea und sah zu, dass sie bei der nächsten Haltestelle schleunigst den Waggon verließ, die laut schimpfenden und lachenden Frauen hinter sich lassend.
    Sie fand sich an einer verwaisten Station wieder, dessen Namensschild vor lauter Dreck unlesbar geworden war. Außer ihr hatte sich niemand auf den schmalen Bahnsteig verirrt, wenngleich um dieser Zeit viele Menschen unterwegs waren. Da ihre Augen nichts fanden, womit sie sich beschäftigen konnten, kehrten ihre Gedanken zu dem eben Erlebten zurück, so dass Lea verlegen von einem Fuß auf den anderen trat. Sie hatte einfach nicht damit gerechnet, beim Beobachten erwischt zu werden. Normalerweise schenkten ihr ihre Mitmenschen nicht allzu große Aufmerksamkeit, was vor allem ihrer eigenen Haltung geschuldet war: Leas Interesse galt schon immer den Büchern - die konnte man lesen, Menschen hingegen nicht.
    Ihre Mutter hatte immer behauptet, Lea besäße eine starke und aufregende Persönlichkeit, müsse das jedoch selbst erst noch entdecken. Aber ihre Kette rauchende Mutter hatte ebenso immer behauptet, dass Lungenkrebs nur andere bekämen. Lea hingegen vertrat die These, dass sie keine Signale aussendete, die ihre Mitmenschen dazu bewogen hätten, ihr einen zweiten Blick zu gönnen. Es war wie einunausgesprochenes Übereinkommen: Ich nehme dich nicht wahr, du nimmst mich nicht wahr. Bislang war sie damit recht gut durchs Leben gekommen, wenn man davon absah, dass sie ihre Bekannten an einer Hand abzählen konnte.
    Doch hier in dieser fremden Umgebung stach Lea nun plötzlich hervor, was ihr äußerst unangenehm war. Plötzlich wurde das Einkaufen von Gebäck zu einer Boulevardnummer, weil sie die hiesigen Sitten nicht durchschaute - anstellen oder vordrängeln? Nur auf das Gewünschte zeigen oder doch versuchen, es beim Namen zu nennen, auch wenn sie es nicht richtig aussprechen konnte, und die Verkäuferin deshalb verächtlich an ihr vorbeischaute? Inzwischen war Lea sich sicher, dass sie bestens auf die Beachtung ihrer Person verzichten konnte. Wenn Beachtung einen zur wandelnden Zielscheibe für Kaugummipapier machte, dann zog sie eindeutig ein Schattendasein vor.
    Eine vorbeidonnernde Bahn riss Lea aus ihren Gedanken und brachte sie dazu, ihren Standort auszumachen. Gerade als sie den angelaufenen Stadtplan hinter einer Plexiglastafel entdeckt hatte, begannen die spärlich gesäten Leuchtröhren über ihrem Kopf zu flackern. In einem Anflug von Panik biss Lea sich auf die Unterlippe und rechnete fest damit, gleich von völliger Dunkelheit umgeben zu sein, weil das Stromnetz wieder einmal zusammenbrach. Allein bei der Vorstellung, in dieser U-Bahn-Station, die einer Katakombe glich, nicht die Hand vor Augen zu sehen, hätte Lea schreien können. Doch nach einem weiteren Flackern und Summen beruhigten sich die Leuchtröhren wieder.
    Hastig warf Lea einen Blick auf den Stadtplan, um festzustellen, dass sie sich ganz in der Nähe von Professor Carrieres Haus befand. Eigentlich hatte sie vorgehabt, die verbleibendeWartezeit in der Zentralbibliothek zu verbringen. Aber bei der Vorstellung, auch nur einen Augenblick länger in diesem zugigen Tunnel mit den unstet flackernden Lichtern auf die nächste Bahn warten zu müssen, beschloss sie ihren Plan zu ändern. Sie würde ein Stück laufen müssen und dann ... Wie unhöflich konnte es schon sein, eine Stunde zu früh zu einer Verabredung zu erscheinen? Ihr würde bestimmt eine geeignete Ausrede auf dem Fußmarsch dorthin einfallen, tröstete sie sich.
    Als sie bei dem fürstlich beleuchteten Stadthaus ihres Gastgebers ankam, war ihr leider noch keine vernünftig klingende Ausrede eingefallen. Ein wenig
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