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Morgenlied - Roman

Morgenlied - Roman

Titel: Morgenlied - Roman
Autoren: Random House
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Fox und schließlich den Picknickkorb mit Sandwiches und Limonade, den Cals Mutter gepackt hatte. Allerdings hätte sie das wohl nicht getan, wenn sie gewusst hätte, dass ihr Sohn vorhatte, mit seinen Freunden am Heidenstein im Wald zu übernachten.
    Es war schrecklich schwül gewesen, erinnerte sich Gage, und sie hatten die Musik aus dem Ghettoblaster laut aufgedreht.
    Tropfend trat Gage aus der Dusche und rubbelte sich mit einem Handtuch die Haare trocken. Sein ganzer Rücken hatte wehgetan, weil sein Vater ihn am Abend zuvor mit dem Gürtel verprügelt hatte. Die Striemen hatten gepocht, als sie auf der Lichtung am Lagerfeuer gesessen hatten. Daran erinnerte er sich genauso wie an das Licht, das auf dem grauen Steinaltar des Heidensteines geflackert hatte.
    Er erinnerte sich auch an die Worte, die sie aufgeschrieben hatten, die Worte, die sie gemeinsam gesprochen hatten, als Cal sie zu Blutsbrüdern machte. Er erinnerte sich an den kurzen Schmerz des Schnitts, er spürte noch heute Cals und Fox’ Handgelenke, als sich ihr Blut gemischt hatte.

    Und dann explodierte etwas, sie spürten Hitze und Kälte, Kraft und Angst, als ihr vermischtes Blut auf den Boden der Lichtung tropfte.
    Er erinnerte sich an die schwarze Masse, die aus dem Boden gekommen war, und an das blendend helle Licht, das darauf gefolgt war. Das reine Böse des Schwarzen, die strahlende Reinheit des Weißen.
    Als es vorbei gewesen war, hatte er keine Striemen mehr auf dem Rücken gehabt, keinen Schmerz mehr empfunden, und in seiner Hand hatte ein Drittel eines Blutjaspis gelegen. Er trug ihn ständig bei sich, so wie Cal und Fox auch. Drei Teile eines Ganzen, genau wie sie.
    In jener Woche war der Wahnsinn nach Hollow gekommen und hatte wie eine Pest gewütet. Seitdem kam er alle sieben Jahre für sieben Tage zurück.
    Nackt und noch feucht vom Duschen streckte Gage sich auf dem Bett aus. Er hatte noch viel Zeit bis Juli, Zeit für weitere Spiele, für heiße Strände und Palmen. Die grünen Wälder und blauen Berge waren noch meilenweit entfernt.
    Er schloss die Augen und schlief sofort ein.
    Im Schlaf kamen die Schreie und das Weinen und das Feuer, das alles vernichtete. Blut lief warm über seine Hände, als er die Verletzten in Sicherheit brachte. Für wie lange?, fragte er sich. Wo waren sie sicher? Und wer konnte schon sagen, wann die Opfer zu Angreifern wurden?
    Der Wahnsinn regierte auf den Straßen von Hollow.
    Im Traum stand er mit seinen Freunden am südlichen
Ende der Hauptstraße gegenüber vom Qwik Mart mit seinen vier Zapfsäulen. Coach Moser, der die Hawkins Hollow Bucks in Gages letztem Schuljahr zur Football-Meisterschaft geführt hatte, brüllte vor Lachen, als er sich, den Boden und die umliegenden Häuser mit Benzin vollpumpte.
    Sie liefen alle drei auf ihn zu und blieben auch nicht stehen, als Moser sein Feuerzeug wie eine Trophäe hochhielt und dann anmachte. Die Stichflamme schoss zum Himmel, und die Explosion dröhnte ohrenbetäubend. Die Hitzewelle schleuderte ihn zurück, und Gage spürte, wie sein gebrochener Arm und sein zertrümmertes Knie mit Schmerzen, die schlimmer waren als die Verletzung selbst, sofort zu heilen begannen. Er biss die Zähne zusammen und lief weiter. Bei dem Anblick, der sich ihm bot, blieb ihm beinahe das Herz stehen.
    Cal lag brennend wie eine Fackel auf der Straße.
    Nein, nein, nein! Schreiend, keuchend nach Luft ringend kroch er in die Flammenhölle. Und dort lag Fox, bäuchlings in einer immer größer werdenden Blutlache.
    Die schwarze, schmierige Rauchwolke formte sich zu einem Mann. Der Dämon lächelte. »Vom Tod könnt selbst ihr nicht mehr geheilt werden, was, mein Junge?«
    Schweißgebadet fuhr Gage aus dem Schlaf auf. Der Gestank nach Rauch und Feuer schnürte ihm die Kehle zu.
    Die Zeit ist um, dachte er.
    Er stand auf und zog sich an. Dann begann er zu packen, um die Rückreise nach Hawkins Hollow anzutreten.

I
    Hawkins Hollow, Maryland, Mai 2008
     
    Der Traum weckte ihn im Morgengrauen, und er war stinksauer. Aus Erfahrung wusste Gage, dass er jetzt nicht mehr einschlafen konnte. Je näher der Juli rückte, je näher es auf die Sieben zuging, desto lebhafter und gewalttätiger wurden die Träume. Er hätte lieber etwas getan, anstatt sich mit Alpträumen herumzuschlagen.
    Oder mit Visionen.
    Seit jenem Juli damals besaß sein Körper die Kraft, sich selbst zu heilen, und Gage konnte in die Zukunft sehen. Allerdings hielt er seine Visionen nicht zwangsläufig für zuverlässig.
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